Kein Opfer ist vergessen
Wald hatte aufblitzen lassen.
»Du hast dich vorbereitet«, stellte ich fest.
Wortlos durchtrennte er den Klebestreifen. In dem Karton steckte eine Handvoll Akten, prall gefüllt mit Dokumenten.
»Ich dachte, Sarah folgt der Papierspur«, sagte ich.
»Sie sucht nach den Prozessunterlagen«, erwiderte Havens. »Was wir hier haben, dürften die Ermittlungsunterlagen sein.«
Ich zog eine Akte heraus. Sie enthielt mehrere Polizeiberichte aus der Zeit, als Skylar als vermisst galt, und eine Skizze seiner Wohngegend. Havens grub tiefer und fischte einen Klarsichtbeutel mit Beweismaterial heraus. Auf dem Anhänger standen das Datum des Leichenfunds und die gekrakelten Initialen eines Polizisten. Aus dem Beutel schaute uns in einem schmalen Holzrahmen das Bild eines Jungen an. Das Glas war gesprungen und zersplitterte sein Lächeln.
»Das kann unmöglich alles sein.«
»Was du nicht sagst.« Havens drehte den Karton um, und ich sah, was auf der Rückseite stand.
»Beweismaterial Wingate. 1 von 4.«
»Demnach haben wir einen Packen Dokumente, ein Foto und drei fehlende Kisten mit Beweismaterial«, sagte ich.
»Sieht so aus.« Havens hatte eine kleine Trittleiter entdeckt und stieg sie hoch.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Vielleicht wurden die anderen Kartons falsch abgestellt.« Er kramte oben auf dem Regal herum.
»Oder das Bezirksgericht hat sie vernichtet. Was ist mit dem Alten unten?«
»Was soll mit ihm sein?« Havens sah zu mir herunter. Er hatte Staub im Gesicht.
»Wir könnten ihn bitten, die Kartons für uns zu suchen.«
»Klar. Ich bin sicher, die haben hier alles im Computer.«
»Benimm dich nicht wie ein Arschloch.«
Havens stieg die Leiter hinunter und wischte sich einen dunklen Schweißfaden von der Stirn. »Jetzt mal im Ernst. Vertraust du diesem Typen etwa? Da oben ist nichts, auf dem ›Wingate‹ steht.«
»Du glaubst also, dass das Hemd verschwunden ist.«
»Hier ist es jedenfalls nicht, so viel steht fest.« Havens umfasste den Karton, den wir gefunden hatten, und trug ihn durch den Gang.
»Wohin gehst du?«, rief ich ihm nach.
Havens antwortete, ohne sich umzudrehen. »Ich will ein paar Kopien machen.«
Ich verteilte den Inhalt der Akten auf einem Tisch. Polizeiberichte, Zeugenaussagen, Skizzen des Tatorts, Protokolle der Ermittler.
»Die Cops bezeichnen so was als Mord-Akte«, sagte Havens und fing an, Kopien zu machen. Ich griff nach einem Autopsie-Bericht und blätterte durch die Seiten. Nach Aussage des Gerichtsmediziners hatte Skylar Wingate drei Stichwunden, keine von ihnen tödlich, und war, bevor er ertränkt wurde, mit einem langen grünen Strick gewürgt worden. Als die Polizei den Jungen fand, hatte er den Strick noch um den Hals.
»Warum ertränkt man jemanden im Fluss und zieht ihn wieder heraus, um ihn zu begraben«, sagte ich.
»Weil der Mörder auf Wasser fixiert war.«
»Wie kommst du darauf?«
»Nicht selten haben solche Typen ihre Rituale. Bestimmte Dinge, die sie bei jedem Mord tun müssen.«
Wir redeten über den toten Jungen, als wäre er ein Gegenstand gewesen. Aber in dem mit alten Kisten vollgestopften Asservatenlager wirkte das völlig normal.
»Glaubst du, der Junge in der Höhle und Skylar Wingate könnten von demselben Mann ermordet worden sein?«
Havens runzelte die Stirn. »Halte ich für unwahrscheinlich.«
»Warum?«
»Du hast es letzte Nacht selbst gesagt. Wingate wurde vor gut vierzehn Jahren umgebracht.«
»Ach, und die Höhle war zufällig in der Nähe?«
»Das habe ich nicht gesagt. Apropos, ist dir schon aufgefallen, dass über den Leichenfund nichts in der Zeitung stand?«
»Vielleicht hat er es nicht mehr in die Morgenausgabe geschafft.«
»Online war auch nichts zu finden«, sagte Havens.
»Du meinst, die Cops halten die Sache unter Verschluss?«
»Entweder das, oder sie ist ihnen egal.«
Ich widmete mich wieder dem Autopsie-Bericht über Wingate. Keine offenkundigen Hinweise auf einen sexuellen Übergriff, auch wenn der Gerichtsmediziner an den Schultern und am Hals des Jungen Verletzungen erkannt hatte, die möglicherweise Bisswunden darstellten. Ich legte den Bericht weg, griff nach einem kleinen quadratischen Umschlag und ertastete die festen Kanten von Fotos. Ich zog sie heraus.
»Fotos vom Tatort?«, erkundigte sich Havens.
Ich schüttelte den Kopf und ging den kleinen Packen durch.
»Was dann?«
Ich sah auf. Der Kopierer summte. Nach jedem Aufblitzen zog er einen breiten Lichtstreifen über Havens’
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