Kein Opfer ist vergessen
sein Sportlehrer«, entgegnete Havens. »An dem Tag, als der Junge verschwand, hatte er bei ihm die letzte Unterrichtsstunde. Die Polizei hielt den Typen damals für einen Verdächtigen, aber er hatte ein Alibi.«
»Und was soll er uns dann erzählen können?«
»Ich schätze mal, das finden wir Dienstag heraus.« Havens hatte seine Wurst mit drei Bissen verschlungen. Er knüllte das Einwickelpapier zusammen und warf es in die Mülltonne an der Ecke.
»Guter Wurf«, sagte Smitty, der herausgekommen war.
Havens zuckte mit den Schultern und wandte sich an mich. »Du hältst nichts von der Schulsache, oder?«
»So würde ich das nicht sagen.«
»Wenn du eine bessere Idee hast, spuck sie aus.«
»Da ist noch etwas anderes, über das wir vielleicht nachdenken sollten. Etwas, das ich in den Polizeiberichten im Asservatenlager gesehen habe.«
»Ah, etwas aus deiner Erinnerungskiste«, sagte Havens.
»Ja. Die Adresse und Telefonnummer des Straßenvereins. Und ein paar Namen.«
»Was ist denn ein Straßenverein?«, fragte Sarah.
»Ein Heim für Obdachlose und eine Volksküche«, erklärte Havens. »Liegt nur einige Blocks von Skylars Schule entfernt. Als James Harrison festgenommen wurde, wohnte er in dem Heim.«
»Ich könnte mir das mal näher anschauen. Während ihr mit dem Lehrer sprecht«, sagte ich. »Zwei Fliegen mit einer Klappe, sozusagen.«
Sarah lächelte. »Klingt vernünftig, Ian.«
Havens wirkte verstimmt. Wahrscheinlich weil er nicht selbst auf die Idee gekommen war. Oder weil Sarah mich so liebevoll beim Vornamen genannt hatte. Oder beides war nur mein Wunschdenken, aber der Mensch durfte ja noch hoffen, oder? Zu guter Letzt gab Havens sich geschlagen.
»Na gut, ich schicke euch eine SMS mit der Adresse der Schule. Wir sollen dort um halb zehn erscheinen.« Er drehte sich zu mir um. »Kann ich die Akten über die anderen beiden Fälle bei dir abstellen? In meiner Gegend ist in der letzten Zeit mehrmals eingebrochen worden. Ich will nicht, dass wir die Sachen auch noch verlieren.«
»Ja, kannst du.«
Wir liefen zu Havens’ Honda und luden die Kartons in Sarahs Kofferraum um.
»In meiner Wohnung sind noch mehr Kartons«, sagte Havens.
»Bist du morgen Nachmittag zu Hause?«, fragte ich.
»Wahrscheinlich.«
»Wenn du mir deine Adresse gibst, komme ich vorbei.«
Havens schrieb seine Adresse auf einen Zettel und reichte ihn mir. Dann stieg er in seinen Wagen.
»Warte noch einen Moment.« Ich legte eine Hand auf das heruntergelassene Seitenfenster.
»Was ist?«
»Wir müssen noch über Z reden.«
»Was gibt’s da zu bereden?«
»Sie hat damals über den Fall Scranton berichtet.«
»Nicht nur berichtet«, sagte Sarah. »Sondern auch den Pulitzer dafür bekommen.«
»Stimmt. Sie kannte jeden einzelnen Schritt der Ermittlung«, ergänzte Havens nachdenklich.
»Na also«, sagte ich.
»Wer weiß?« Havens überlegte. »Vielleicht war sie mit den Cops auf Du und Du. Was ist, wenn sie merkt, dass wir zwischen den Fällen Wingate, Allen und Scranton einen Zusammenhang vermuten und glauben, dass die angeblichen Täter gelinkt wurden? Z könnte versuchen, uns auszutricksen. Oder aber sie hat es schon gemerkt und ist gerade dabei, uns auszutricksen.«
»Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
»Vielleicht doch. Aber wie auch immer – wir machen erst mal weiter und sehen, was sich dabei ergibt. Zumindest noch für eine Woche. Wenn Z dabei auf der Strecke bleibt, Pech für sie.« Havens legte den Ellbogen auf den Fensterrahmen und startete den Motor. »Amüsiert euch gut. Joyce, wir sehen uns morgen.«
Er grinste mich niederträchtig an und fuhr davon.
Sarah und ich sahen zu, wie der Honda über die Central verschwand, und beschlossen, noch ein paar Schritte zu gehen.
»Siehst du das so wie er?«, fragte ich. »Ich meine, was Z betrifft.«
»Nicht ganz. Aber ich sehe auch keinen Grund, ihr alles zu erzählen.«
»Wahrscheinlich kennt sie den Fall Scranton genauso gut wie die Polizei. Wenn es Parallelen zu Skylar gibt, würde sie die sicherlich erkennen.«
»Aber wie würde sie reagieren?«, sagte Sarah.
»Du meinst, sie könnte uns was vormachen?«
»Warum nicht? Der Fall Scranton war ein Meilenstein ihrer Karriere. Wenn wir mit unserer Theorie richtig liegen, hat man damals den falschen Mann schuldig gesprochen. Was glaubst du, wie peinlich das für sie würde. Oder noch schlimmer als peinlich.«
Wir liefen weiter, kamen an einer Reihe Läden vorbei und erreichten schließlich eine
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