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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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Wohngegend. Die Straße war gesäumt von schmucken Häusern mit breiten Auffahrten und gepflegten Vorgärten. Eine Frau kam aus einem Bungalow und trug übereinander gestapelte, weiße Plastikstühle vor sich her. An der Ecke Lincolnwood reihte sie die Stühle nebeneinander auf und ging über ihre Einfahrt ins Haus zurück. Am anderen Ende der Stühle lag eine blaue Wolldecke auf dem Boden, daneben stand ein ausgesessenes Sofa. Auf der Straßenseite gegenüber waren zwanzig Klappstühle zu sehen.
    »Was soll das Ganze?«, fragte Sarah.
    »Was meinst du?«
    »Na, die Stühle auf dem Gehweg.«
    »Seit wann wohnst du in Evanston?«
    »Seit gut vier Jahren.«
    »Na also. Heute ist der 1. Juli. Die Leute stellen die Stühle auf, um sich Plätze für die Parade am 4. Juli zu reservieren.«
    »Du machst Witze, oder?«
    »Warst du noch nie im Sommer hier?«
    »Nein.«
    »Früher sind die Leute hier regelrecht ausgetickt. Haben ihr Areal schon zwei Wochen vorher abgesteckt und mit Seilen abgesperrt. Inzwischen ist das verboten, vor dem 1. Juli darf nichts reserviert werden. Aber bis morgen wird hier alles voll von Gartenstühlen, Liegen und Wolldecken sein. Ich habe hier schon ganze Wohnzimmergarnituren gesehen.«
    »Es ist mir ein Rätsel, wie man so verrückt nach einer Parade sein kann.«
    »Es ist immerhin eine amerikanische Tradition.«
    Nach etwa einer Meile auf der Central erreichten wir ein Gewerbegebiet. Zu unserer Rechten lag ein kleiner Park.
    »Möchtest du dich setzen?«, fragte ich.
    »Warum nicht.«
    Wir suchten uns eine Bank und hielten das Gesicht in die Sonne. Auf der anderen Straßenseite war ein italienisches Eiscafé, und wir beobachteten die Menschen, die mit ihren Kindern hineingingen und wieder herauskamen.
    »Ich brauche ein bisschen Farbe im Gesicht«, sagte Sarah.
    Ich betrachtete sie von der Seite. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Teint war perfekt.
    »Du siehst wundervoll aus«, sagte ich.
    »Ich bitte dich.«
    »Du bist eine schöne Frau, Sarah.«
    Sie beschattete ihre Augen mit der Hand und sah mich an. »Sag das nicht.«
    »Warum nicht. Es ist die Wahrheit.«
    Sie seufzte und dehnte ihren Rücken. Dann schloss sie die Augen wieder und blendete mich aus.
    »Was hast du?«, fragte ich.
    »Nichts.«
    »Sag es mir.«
    »Ich glaube nicht, dass du es hören möchtest.«
    »Gut, wie du willst.«
    Wir verfielen in Schweigen, das Sarah schließlich brach.
    »Möchtest du wissen, was ich bin?«
    »So, wie du dich anhörst, vielleicht lieber nicht.«
    »Ich bin das, was man ›um ein Haar gutaussehend‹ nennt.«
    »Und was soll das bedeuten?«
    »Dass ich nicht ganz eine von ihnen bin, sondern nur um ein Haar.«
    »Wen meinst du mit ›ihnen‹?«
    »Egal. Offenbar kapierst du es nicht.«
    Ich kapierte es sehr wohl, ich hatte nur noch nie jemanden getroffen, der so etwas gedacht, geschweige denn ausgesprochen hatte.
    »Klar bist eine von ihnen, Sarah. Du bist quasi der Prototyp der Kategorie.«
    »Das hast du nett gesagt, aber du irrst dich. Ich gehöre nur beinah zu ihnen.«
    Falls Sarah Gold in die Beinah-Kategorie gehörte, wollte ich gar nicht wissen, wo ich anzusiedeln war.
    »Jake ist einer von ihnen«, fuhr sie fort. »Du bist zwar ein Kerl, aber ich bin sicher, du kannst es auch erkennen. Er sieht gut aus, ist intelligent, wahrscheinlich treibt er auch irgendeinen Sport. Mr Havens wird bei Frauen keine Probleme haben.«
    »Können wir über etwas anderes reden?«
    Sarah öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne. »Habe ich was Falsches gesagt?«
    »Nein.«
    »Wenn, dann tut es mir leid.«
    »Muss es nicht. Du hast ja nur die Wahrheit gesagt.«
    »Das hat mir schon öfter Ärger eingebracht.«
    »Diesmal nicht.«
    »Du siehst selbst gut aus, Ian.«
    »Könnten wir jetzt bitte das Thema wechseln?«
    »Es stimmt aber.« Vielleicht hatte sie bei den Worten gelächelt, aber ich schaute direkt in die Sonne und konnte es nicht sehen.
    »Ich habe Durst«, sagte ich. »Möchtest du eine Cola oder so?«
    »Ja, gerne.«
    Wir überquerten die Straße, kauften in einer Bude zwei Dosen Limonade und setzten uns draußen im Schatten an einen Tisch.
    »Was weißt du über Jake?«, fragte sie.
    »Schon wieder er.«
    »Ich habe es dir bereits gesagt, dass ich mir nichts aus ihm mache.«
    »Wenn doch, ist es auch okay.«
    »Das weiß ich. Aber es ändert nichts an der Tatsache. Was weißt du über seine Familie?« Sie trank einen Schluck Limo. Unter ihrem Blick fing meine Haut an zu prickeln.
    »Nichts.

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