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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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flüsterte: »Wir hatten doch abgemacht, dass wir uns auf einen Drink treffen, oder? Im Moment ist er noch in der Medill.« Sie führte das Handy wieder ans Ohr. »Wir sind in einem Lokal namens Clarence auf der Central und sitzen im Innenhof.« Sie hörte zu. »Gut. Bis dann.«
    Sie legte das Handy auf den Tisch. »Er kommt vorbei.«
    »Fein.«
    »Ich finde, du solltest ihm das mit deinem Bruder erzählen.«
    »Da gibt es keinen Zusammenhang, Sarah.«
    »Das wissen wir nicht. Das können wir gar nicht wissen.«
    Ich schwieg. Sarah bestellte noch zwei Bier. Wir saßen in der Sonne und tranken. Und für einen Moment schienen sich unsere düsteren Gedanken zu verflüchtigen. Kurz darauf erschien Havens.
    »Ihr lasst es euch ja ziemlich gut gehen«, begrüßte er uns. »Na, Joyce, alles klar?«
    Ich nickte ihm zu. Sarah klopfte auf den Stuhl an ihrer Seite. Havens setzte sich. Als die Kellnerin kam, deutete er auf unsere Gläser und sagte, er nehme das Gleiche.
    »Wart ihr bei der Parade?«, fragte er.
    »Ja, war ein Riesenspaß«, antwortete Sarah.
    »Warum warst du in der Medill?«, erkundigte ich mich.
    »Heute Morgen bin ich noch einmal zu Wingates Schule gefahren. Einige der ehemaligen Lehrer hatten sich bereit erklärt, sich dort mit mir zu treffen.«
    »Schau an. Und was wolltest du von ihnen?«
    Havens sah zu der Kellnerin hoch, die sein Bier brachte, bezahlte und nahm einen Schluck. »Schmeckt gut. Was ist das?«
    »Daisy Cutter«, erwiderte ich. »Wird hier in der Gegend gebraut. Was hast du in der Schule erfahren?«
    Havens musterte mich über den Rand seines Glases hinweg. »Immer mit der Ruhe, Joyce.«
    »Das musst du gerade sagen. Also los, rück raus mit der Sprache. Was hat man dir erzählt?«
    »Nicht viel. Natürlich erinnern sie sich alle an den Jungen. Konnten noch immer nicht fassen, dass er ermordet worden ist. Ich habe ihnen von dem Brief berichtet.«
    »Das hättest du besser nicht getan.«
    »Habe ich aber.« Er trank den nächsten Schluck und lächelte selbstgefällig.
    »Über diesen Brief haben Ian und ich vorhin gesprochen«, sagte Sarah.
    »Ach, wirklich?«, sagte ich.
    »Irgendwie schon.« Sie sah mich fragend an.
    »Tu dir keinen Zwang an«, meinte ich.
    Daraufhin erzählte sie Havens, dass ich einen Zwillingsbruder hatte, und umriss die Geschichte in groben Zügen, wobei sie mehrfach die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Unfällen betonte. Als sie geendet hatte, sah sie Havens erwartungsvoll an, doch der stellte sich stur.
    »Darüber können wir ein andermal reden.«
    In einer kaum merklichen Geste prostete ich ihm zu. Sarah bekam sie trotzdem mit, gab sich geschlagen und suchte nach einem anderen Thema. Zuerst kam die Parade an die Reihe, dann das Wetter, bis sie über Evanston zur Medill gelangte.
    Auf die Weise ging eine Stunde vorüber, in der wir dasaßen, redeten und tranken. Irgendwann rückte Sarah mit ihrem Stuhl näher an Jake heran, stützte einen Ellbogen auf den Tisch und ihr Kinn auf die Hand. Je näher sie an ihn heranrutschte, desto schweigsamer wurde er. Ich war wie die überflüssige Figur eines Puzzles, das ohnehin keiner mehr vollenden wollte. Zumindest kam ich mir so vor.
    Dann entschuldigte Sarah sich und lief zur Toilette. Jake und ich waren allein.
    »Glaubst du, Sarah könnte richtig liegen?«, fragte er. »Gibt es vielleicht jemanden, der es auf uns beide abgesehen hat?«
    »Wegen unserer Brüder?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, jemand hat dich ausgesucht, um dir den Brief zu schicken. In der Erwartung, dass du ihn persönlich nimmst, sobald du die näheren Umstände kennst. An mich hat sich niemand gewandt.«
    »Vielleicht hast du recht. Aber das mit deinem Bruder tut mir leid.«
    »Mir auch.«
    Wir stießen mit den Gläsern an und wussten für den Bruchteil eines Moments mehr über den anderen, als wir sonst in hundert Jahren erfahren hätten.
    »Ich fahre noch in die Stadt«, sagte er. »Ein Freund von mir hat ein Boot. Wir tuckern über den See und schauen uns die Feuerwerke am Ufer an. Insgesamt vielleicht dreißig Leute. Es gibt Bier und was zu essen.«
    »Danke, aber ich glaube, ich bleibe heute Abend zu Hause.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja, aber ich wette, Sarah wäre gern dabei.«
    »Gut, dann frage ich sie.«
    Die beiden wollten noch eine Runde bestellen. Ich winkte ab. Als sie aufbrachen, zerrte Sarah mich fast vom Stuhl und bestand darauf, dass ich mit ihnen kam. Zum Boot. Und Havens’ Party. Auch das lehnte ich ab. Sie küsste mich zum

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