Kein Opfer ist vergessen
Samen hat«, sagte Moncata, »dann findet er ihn genau dann, wenn er ihn braucht. Auf irgendeinem Beweisstück. Und schon hätte er einen triftigen Grund, Sie festzunehmen.«
»Mit anderen Worten«, ergänzte Rodriguez. »Coursey hat Sie in der Hand. Zumindest für den Moment.«
»Warum hat er mich denn dann nicht verhaftet? Warum hat er mich laufen lassen?«
Rodriguez kratzte sich am Ohr und zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich weil er weiß, dass ich mir Marreros Akte besorgt habe. Oder er will abwarten, bis er den Fall noch weiter aufbauschen kann. Zurzeit sind Sie ihm im Gefängnis nicht von Nutzen. Trotzdem wird er Sie im Auge behalten.«
»Moment mal«, sagte ich. »Wenn er das alles geplant hat, um mich reinzureiten, dann …«
Rodriguez musste die heiße Wut in meinen Augen erkannt haben, denn er nickte. »So ist es. Wenn jemand Ihnen mithilfe von Marrero eine Falle gestellt hat, dann bedeutet das, dass derjenige auch in Sarahs Wohnung eingebrochen ist und sie vergewaltigt hat. Entweder war es Coursey selbst oder einer seiner Kumpane.«
»Es war dieser Scheißkerl Coursey«, sagte Moncata. »So was wäre genau sein Stil.«
»Auf die Weise hat man Sie und Sarah auf einen Schlag außer Gefecht gesetzt«, fügte Rodriguez hinzu. »Und Ihr kleines Seminar ist damit auch vom Tisch.«
Ich wusste, dass es genau so war. Sie hatten es auf uns abgesehen. Auf mich und Sarah. Und dann hatten sie uns in einem Netz gefangen, das ich selbst gesponnen hatte. Moncata schien mir meine Gedanken vom Gesicht abzulesen.
»Man wird Sie nicht verurteilen«, sagte er. »Sollte die Sache vor Gericht kommen, weiß ich, wie ich die Beweisführung auseinandernehmen kann.«
»Ich kann auf keinen Fall wieder ins Gefängnis«, erwiderte ich.
»Es wäre ja nur, bis Kaution gestellt wird.« Moncata deutete auf Rodriguez. »Außerdem würde er dafür sorgen, dass Sie in Schutzhaft kommen.«
»Darum geht es nicht.« Ich erzählte ihnen das, was ich über Brian Hines erfahren hatte. Dass er hinter dem Mord an Harrison, Laramore und Tyson gestanden hatte. Rodriguez trug den Namen Hines in ein kleines schwarzes Notizbuch ein.
»Hines ist zwar tot«, schloss ich. »Aber ich bin sicher, dass es andere gibt, die seinen Job übernehmen können.«
»Sie müssen nicht ins Gefängnis«, versprach Rodriguez. »Nicht einmal für eine Nacht. Sam?«
Moncata stand auf und dehnte seinen Rücken. »Für einen alten Mann wie mich wird es langsam Zeit, sich aufs Ohr zu legen.« Er klopfte mir auf die Schulter und schüttelte meine Hand. »Man sieht sich.«
Als er verschwand, schaute ich ihm nach und fragte mich, ob mich gerade der einzige Freund in diesem Raum verlassen hatte. »Wohin geht er?«
»Ich möchte, dass Sie einen Freund von mir kennenlernen«, sagte Rodriguez. »Er gehört nicht zur Polizei. Aber er ist jemand, dem ich mein Leben anvertrauen würde.«
»Warum konnte Sam ihn nicht auch kennenlernen?«
»Im Moment ist es besser, wenn diese Bekanntschaft unter uns bleibt. Ohne Sam, ohne Z. Okay?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Nicht wirklich.«
—
Für einige Minuten war ich mit der Leiche im Nebenraum allein. Dann öffnete sich die Tür, und Rodriguez kehrte mit seinem Freund zurück.
»Ian, ich möchte Sie mit Michael Kelly bekannt machen.«
Kelly war um die eins achtzig. Sein Gewicht schätzte ich auf knapp hundert Kilo. Irische Abstammung, gelocktes schwarzes Haar und blaue Augen. Ein Mann, dem das Leben ein paar Wunden geschlagen hatte, trotzdem cool und selbstbewusst. Er trug Jeans und ein schlabbriges graues T-Shirt. Breite Schultern, Hände und Arme eines Boxers. An seiner Hüfte hing eine Waffe.
»Hallo, Ian.«
»Hi –«
»Nennen Sie mich Kelly.«
»Hi, Kelly.«
»Ist das, was hier abläuft, für Sie akzeptabel?« Seine Stimme war sanfter als sein Aussehen, und beim Sprechen hatte er einen kleinen regionalen Zungenschlag. Ich tippte auf Galway.
»Gerade habe ich gehört, dass ich keine andere Wahl habe.«
Kelly wirkte amüsiert, sagte aber nichts. Er setzte sich, verschränkte die Hände im Nacken und legte die Füße auf den von Moncata gewienerten Tisch. Rodriguez wartete, bis er es sich bequem gemacht hatte. Dann wandte er sich wieder an mich.
»Ich sage Ihnen mal, wie der Plan aussieht. Bis morgen etwa bin ich mit den beiden neuen Morden beschäftigt und noch ein paar anderen Fällen hier aus der Gegend. Währenddessen gleicht Sam sämtliche Bisswunden mit dem FBI ab. Kelly wird Sie irgendwo unterbringen, denn
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