Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
Vom Netzwerk:
werden es nicht glauben, aber Coursey war zwei Mal hier, um sie zu besuchen. Angeblich, um den Fall aufzuklären.«
    »Was ist, wenn er erfährt, dass ich hier bin.«
    »Aus dem Grund dürfen wir keine Zeit verlieren. Sie haben zehn Minuten, mehr nicht. Und falls irgendjemand Sie jemals danach fragen sollte, waren Sie nie hier.«
    »Soll ich ihr etwas Bestimmtes sagen?«
    »Etwas Aufbauendes wäre ganz nett.«
    Sarah saß im Bett, als hätte sie nicht mehr als eine Grippe, doch ein Auge war beinah zugeschwollen, die Lippen waren aufgeplatzt, und von der Wange bis zum Kinn hatte sie einen Bluterguss, der von Lila bis zu changierendem Gelb reichte.
    »Tut es dir weh zu reden?«, fragte ich.
    »Ist nicht so schlimm.« Ihre Stimme klang brüchig. Laute, die sich selbst noch nicht zu trauen schienen. Ich beschloss, mich auf fünf Minuten zu beschränken.
    »Wie lange musst du noch hierbleiben?«
    »Es heißt, dass ich morgen gehen kann.«
    Ich sah mich um. Es war ein kahler Raum, nur auf dem Tisch an der Tür stand ein Blumenstrauß in einer Vase. »Was ist mit deiner Familie?«
    »Meine Eltern kommen heute. Ich habe es Ihnen erst gestern Abend erzählt. Vorher hätte ich ihr Gejammer nicht ertragen.«
    Ich setzte mich auf die Bettkante. »Ich wollte nur sagen, wie leid es mir tut.«
    Sarah winkte ab. Dann breitete sie die Arme aus. Ich zog sie an mich und spürte ihre Wirbelsäule unter ihrem Krankenhausnachthemd.
    »Sarah.«
    Ihre Lippen streiften mein Ohr. »Bitte, sprich nicht darüber.«
    »Ich war in der Nacht da. Ich hätte nicht da sein sollen, aber ich war es. Man hat mir eine Falle gestellt. Uns beiden.«
    »Das weiß ich. Ich kann dir sogar sagen, warum.«
    »Dann glaubst du also nicht, dass ich dich angegriffen habe?«
    Ein zerbrechliches Lächeln kroch zwischen ihren geschundenen Lippen hervor. »Habe ich nie getan.« Sie lehnte ihren Kopf an meine Brust. Ich tastete nach dem Puls an ihrem Handgelenk und zählte die Schläge.
    »Erinnerst du dich an die ehrenamtliche Arbeit, die ich mache?«, fragte sie leise und stockend, als säße sie in einem Beichtstuhl.
    »Ja, für Omega.«
    »Genau. Wir helfen misshandelten Frauen.«
    »Und weiter?«
    »Jetzt stehe ich auf der anderen Seite.« Sie schaute zu mir hoch. »Deshalb muss ich stark sein.«
    »Ich werde dich beschützen, Sarah. Ganz gleich, was geschieht, in Zukunft passe ich auf dich auf.«
    »Das habe ich auch Rodriguez gesagt. Ich glaube, es hat ihm gefallen.« Sie lehnte sich wieder an mich und schloss die Augen. Gerade als ich dachte, sie wäre eingeschlafen, sprach sie weiter. »Ich hab was für dich.« Sie griff unter ihre Bettdecke und zog einen braunen A-5-Umschlag hervor.
    »Was ist das?«
    »Etwas, woran ich gearbeitet habe, bevor das alles passiert ist. Detective Rodriguez war in meiner Wohnung und hat es mir gebracht. Ich dachte, es könnte warten, aber vielleicht ist es besser, ich gebe es dir jetzt schon.«
    »Sarah –«
    Sie unterbrach mich. »Jake hat mir von diesem Trefferkommando erzählt und gesagt, die Hintermänner seien tot.«
    »Ja. Teddy Green und John Carlton.«
    Sarah drückte mir den Umschlag in die Hand. »Lies das.« Jemand klopfte leise an der Tür. »Über alles andere reden wir später.«
    Ich klemmte mir den Umschlag unter den Arm. »Denkst du, du kommst zurecht?«
    »Das hängt vermutlich davon ab, was du mit ›zurechtkommen‹ meinst.« In ihren Augen blitzte etwas Hartes auf. »Gestern Abend war Detective Coursey hier und sagte, er müsse sich meine Verletzungen ansehen. Ich habe zugelassen, dass er mich berührt. Er sollte nicht sehen, dass ich ihn da schon im Verdacht hatte.«
    »Es tut mir so leid, Sarah.«
    »Wenn er tatsächlich derjenige war, der mich angegriffen hat, muss ich es wissen. Ich will, dass er dafür bezahlt. Er soll vor ein Gericht kommen und bestraft werden. Weißt du, was ich damit sagen will?«
    »Ich denke schon.«
    »Gut.« Sie spreizte die Finger und drückte ihre Handfläche an meine. »Ich werde nicht mehr dieselbe sein. Nichts wird wieder sein, wie es war. Für keinen von uns.« Sie machte eine Pause, um mir Zeit für eine Antwort zu lassen, doch ich schwieg. Wieder wurde an der Tür sachte geklopft. »Du musst gehen«, sagte Sarah.
    Ich küsste ihre Wange, die sich wie kühles Porzellan anfühlte. Einen Moment lang blieb ich noch bei ihr sitzen. Dann stand ich auf, schob den Umschlag unter mein Hemd und ging zur Tür. Im Hinausgehen warf ich einen Blick auf die Karte, die an der Vase lehnte.

Weitere Kostenlose Bücher