Kein Opfer ist vergessen
Sie war von Jake.
Ich sagte Rodriguez, dass ich noch eine Minute brauche, trat in die nächste Herrentoilette und holte Sarahs Umschlag hervor. Bei dem Inhalt handelte es sich um zusammengeheftete, alte Laborberichte. Sie enthielten die Ergebnisse der Blutuntersuchungen in den Fällen Wingate und Allen und der Haar- und Faseranalysen im Fall Scranton. In jedem der Prozesse hat ein anderer Experte ausgesagt, doch die Tests waren allesamt von ein und derselben Person durchgeführt worden. Ihren Namen hatte Sarah jeweils mit Leuchtstift hervorgehoben. Demnach ging es um eine Frau namens Sally Finn. Als Nächstes stieß ich auf eine Reihe Zeitungsausschnitte, die Sarah ebenfalls in den Umschlag gesteckt hatte. Sie dokumentierten den Aufstieg dieser Finn von einer Labortechnikerin zur Leiterin des Polizeilabors von Cook County im Jahr 1994 und schließlich zur Leiterin des Polizeilabors des Staates Illinois, eine Position, die sie bis zu Beginn ihres Ruhestands im Jahr 2005 bekleidet hatte. Auch auf diesen Ausschnitten hatte Sarah den Namen jeweils mit Leuchtstift markiert und in Großbuchstaben an den Rand geschrieben »drittes Kernmitglied des Trefferkommandos?«.
Ich steckte die Unterlagen in den Umschlag zurück und schob den Umschlag wieder unter mein Hemd. Als ich auf den Flur hinaustrat, wartete Rodriguez schon auf mich. Er führte mich zu einem Aufzug. Wir verließen das Krankenhaus durch einen Seiteneingang. Auf der angrenzenden Gasse saß Kelly in einem Wagen mit laufendem Motor. Ohne ein Wort schob Rodriguez mich auf den Beifahrersitz. Kelly fuhr los. Vor dem Krankenhaus parkten zwei Zivilfahrzeuge der Polizei mit blinkendem Blaulicht. Ich duckte mich tief in meinen Sitz, denn einem der Wagen entstieg Coursey, lief zum Haupteingang und verschwand durch die Drehtür. Kelly trat aufs Gas.
VIERZIG
Kelly steuerte den Wagen nach Norden zum Lake Shore Drive.
»Wohin fahren wir?«, erkundigte ich mich.
»Zum Hotel Willows. Früher hieß es mal The Surf. Schon mal davon gehört?«
»Nein.«
»Dort wurde Richard Speck während seines Prozesses untergebracht. Der Mann hatte acht Krankenschwestern ermordet.«
»Und jetzt werde ich dort untergebracht? Soll das ein Witz sein?«
»Das müssen Sie Rodriguez fragen. Obwohl er mir dieser Tage keinen großen Sinn für Humor zu haben scheint.«
Auf der Fullerton bog Kelly in den Cannon Drive ab.
»Darf ich mal fragen, wie das laufen soll?«
»Was laufen soll?«
Ich fuchtelte mit den Händen. »Na, das hier. Was Rodriguez von Ihnen verlangt und so.«
Kelly warf mir einen Seitenblick zu. »Rodriguez kann uns mal. Sagen Sie mir lieber, was Sie tun möchten.«
»Im Ernst?«
»Was sonst?«
»Ich will die Wichser fassen, die Sarah angegriffen haben. Die drei unschuldige Männer hereingelegt haben. Und dafür gesorgt haben, dass sie im Gefängnis umgebracht worden sind.«
»Sprechen wir von dem Trefferkommando? Oder dem, was noch davon übrig ist?«
»Kennen Sie die Typen?«
»Ich war mal Cop. Die Mitglieder des Kommandos waren die großen Strippenzieher. Ließen nie jemanden an ihre Fälle heran, mit Ausnahme ihrer eigenen Leute.«
»Jetzt wissen wir auch, warum.«
»Sind Sie sicher?«
»Sie nicht?«
»Haben Sie schon jemand Bestimmten im Auge?«
»Was soll die Frage? Coursey, natürlich.«
Kelly seufzte. »Ich kenne Marty Coursey. Dumm wie ein Stück Scheiße. Sieht auch so aus.«
»Glauben Sie etwa, er hätte nichts damit zu tun?«
»Ich glaube, dass er hinter dem Angriff auf Ihre Freundin steht, falls Sie das meinen.« Er machte eine Pause. »Aber der Drahtzieher ist er nicht.«
Da waren wir noch nicht mal zwei Meilen gefahren, und schon hatte er mich zum Nachdenken gebracht. Zum Überdenken. Anscheinend war er jemand, den ich ernst nehmen musste.
»Wer ist es dann?«, fragte ich.
Kelly zuckte mit den Schultern. »Die meisten aus dem Kommando sind mittlerweile tot, einschließlich des leitenden Staatsanwalts und des Chief of Detectives. Aber irgendeiner ist noch aktiv. Und er oder sie hat was am Kochen. Etwas, das es wert ist, geschützt zu werden.«
Ich überlegte, ob ich Sally Finn erwähnen sollte, entschied jedoch, den Namen im Moment noch für mich zu behalten. Inzwischen fuhren wir über die Diversey, bogen nach links in die Oakdale ein und erreichten die Surf Street. Kelly parkte vor einem Hydranten.
»Ihr Kumpel hat das Zimmer Nummer 302. Ihrs liegt gleich nebenan.« Er warf mir einen Satz Schlüssel zu.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte
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