Kein Opfer ist vergessen
wenn Coursey Sie nirgends findet, kann er Sie auch nicht festnehmen. Das Gleiche gilt für Jake Havens.«
»Was ist mit Harrison und der Blutprobe, die man ihm untergejubelt hat?«, fragte ich. »Moncata hat in ihr Zitronensäure nachgewiesen. Damit lässt sich doch sicher was anfangen.«
»Vorher muss ich mich mit den beiden aktuellen Morden befassen«, sagte Rodriguez. »Was die Blutprobe im Fall Harrison betrifft, die ist bei Sam unter Verschluss. Diese Karte spielen wir erst aus, wenn die Zeit reif ist.«
»Heißt das, Jake und ich verstecken uns nur?«
Rodriguez und Kelly tauschten einen Blick, ehe sie mich wieder ansahen. Lidschläge schien Kelly nicht zu kennen.
»Was ist?«, fragte ich.
»Über Jake Havens sollten wir uns mal unterhalten.«
»Was ist mit ihm?«
Rodriguez stützte die Ellbogen auf die Knie, legte die Hände übereinander und beugte sich zu mir vor. »Wie viel wissen Sie über ihn?«
»Wie viel muss ich denn wissen?«
Kelly schwang seine Füße vom Tisch, griff nach dem Wasserkrug und goss sich ein Glas ein.
»Haben Sie mal etwas über seine Kindheit gehört?«, fragte Rodriguez.
»Sein Bruder ist ertrunken. Genauso wie meiner.«
»Was ist mit seinem Jurastudium?«
»Was soll damit sein?«
»In der Zeit hat Jake sich noch anderweitig engagiert, hat mit Kindern gearbeitet, die Jugendstrafen hinter sich hatten. Auf dem Weg ist er an einen üblen Fall geraten. Es ging um eine Mutter, die zwei ihrer Kinder umgebracht und für das dritte das gleiche Schicksal geplant hatte. Das Gericht hat die Sache damals anders gesehen und entschieden, dass die beiden Tode Unfälle waren. Daraufhin kam das dritte Kind zu der Mutter zurück. Dagegen hat Jake sich gewehrt.«
»Was hat er gemacht?«
»Er ist in der Wohnung erschienen und wollte den Jungen mit Gewalt an sich nehmen. Die Mutter hat angeboten, ihm das Kind zu verkaufen. Jake hat das abgelehnt, und sie hat die Polizei gerufen. Wenig später bekam die Mutter zwanzig Jahre wegen Drogenhandels in großem Stil. Der Junge lebt inzwischen bei einer Pflegefamilie. Aber –«
»Was aber?« Mein Gaumen war plötzlich trocken geworden. Kelly reichte mir das Wasser, von dem ich gedacht hatte, dass er es für sich eingeschenkt hatte. Ich trank einen Schluck und wollte ihm das Glas zurückgeben.
»Behalten Sie es«, sagte Kelly.
»Wir machen uns Sorgen«, fuhr Rodriguez fort. »Gewaltsames Vorgehen während des Jurastudiums. Zuvor das Trauma durch den Tod seines Bruders. Und jetzt taucht er bei Fällen auf, in denen es wieder um getötete Kinder geht.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte ich.
»Dass er Ihren Freund Jake für leicht instabil hält«, antwortete Kelly. »Und dass er das Gesetz in die eigene Hand nehmen könnte, falls wir den Mörder finden.«
»Niemals«, sagte ich. Dann dachte ich an die Art, wie Jake Sarahs Exfreund abgefertigt hatte. An die Fotos der ermordeten Kinder an den Wänden in seinem Schlafzimmer. An die Wut in seiner Stimme, wenn er über getötete Kinder sprach.
»Sie müssen das nicht glauben«, sagte Kelly. »Der Detective möchte lediglich, dass Sie es im Auge behalten.«
»Und was genau soll das sein?«
»Nennen wir es mal die Situation«, erwiderte Rodriguez. »In der Zeit, in der Sie drei zusammen sind, wird Kelly Ihren Freund ein bisschen mehr ausloten und gewissermaßen als Beobachter fungieren. Damit will ich nicht sagen, dass Jake zwangsläufig jemandem an die Kehle geht. Oder sonst etwas in der Art unternimmt. Ich wollte Sie lediglich ins Bild setzen. Und Sie gleichzeitig warnen. Sie achten auf ihn, ja?«
Ich löste meinen Blick vom Boden und ließ ihn durch den Raum gleiten. Nirgendwo stand eine gute Antwort geschrieben, und wählen konnte ich auch nicht mehr.
»Unter einer Bedingung«, sagte ich und hob einen Finger.
»Und die wäre?«, fragte Rodriguez.
»Vorher möchte ich Sarah sehen.«
NEUNUNDDREISSIG
Der Pausenraum war klein, das Sofa knüppelhart und im Nebenraum befand sich mindestens eine Leiche. Mir war das alles einerlei, ich schlief wie ein Stein. Kurz nach sieben Uhr morgens weckte mich Rodriguez. Auf dem Weg zum Northwestern Memorial Hospital sprachen wir kaum ein Wort. Im Krankenhaus bestand er darauf, als Erster mit Sarah zu sprechen. Als er aus ihrem Zimmer kam, war seine Miene verkniffen.
»Wie geht es ihr?«, fragte ich.
»Den Umständen entsprechend. Ich habe sie auf den neuesten Stand gebracht.«
»Haben Sie ihr den Namen des Schweins genannt?«
»Auch das. Sie
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