Kein Opfer ist vergessen
schüttelte Rodriguez die Hand. Dann drehte er sich zu mir um. »Hätte nicht gedacht, dass wir uns so bald wiedersehen.«
»Geht mir genauso«, gab ich zurück.
Moncata führte uns in einen kleinen Pausenraum nebenan, doch die verhüllte Leiche auf dem Tisch konnte man von dort aus noch sehen. Im Pausenraum standen ein Tisch, Stühle, eine Kaffeemaschine und an einer Wand zwei Automaten mit Getränken und Snacks. Moncata hatte seine Unterlagen über den ganzen Tisch gebreitet, bedeutete uns, Platz zu nehmen, und sah Rodriguez abwartend an.
»Ich glaube, es ist besser, wenn du ihm alles erklärst«, sagte der Detective.
»Na schön.« Moncata setzte sich, stützte die Ellbogen auf und formte seine Hände zu einem Zelt. Dann richtete sich sein Blick auf mich. »Wahrscheinlich fragen Sie sich, warum Detective Rodriguez Sie hergebracht hat. Und das auch noch nachts.«
»Ja. Unter anderem.«
»Als Sie in meinem Büro waren, habe ich Ihnen gesagt, dass wir mitten in einer Sache stecken.« Er zeigte auf Rodriguez. »Dabei ging es um eine Ermittlung, einen Jungen, der in einer Höhle des Naturschutzgebiets von Cook County gefunden wurde.«
»Davon habe ich gehört.«
»Ja, das hat Rodriguez berichtet. Ihre Karte wurde in der Nähe der Höhle entdeckt. Aber darum geht es jetzt nicht.« Moncata machte eine kleine Pause, ehe er weitersprach. »Auf dem Tisch da draußen liegt ein weiteres Opfer. Männlich. Dreizehn Jahre alt. Wurde vor sechs Stunden aus dem Wasser gefischt. Etwa zwei Meilen von der ersten Leiche entfernt.« Wieder eine Pause. Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte, aber der Weg dahin schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten. »Vielleicht sollten wir noch mal kurz in die Autopsie gehen.«
Wir standen auf und stiefelten zurück. Vor dem Tisch mit dem toten Jungen blieben wir stehen. Ich betrachtete den zugedeckten Leichnam. Unter dem Laken schaute ein Arm des Jungen heraus. Ich erkannte ein grünes »L« und ein »U«, die dünn und zittrig auf die Innenseite des Handgelenks tätowiert worden waren, und wartete darauf, dass Moncata das Laken zurückschlug und mit mir auf Rundreise über den Toten ging. Stattdessen trat er noch einmal an die Leuchttafel und knipste sie an. »Kommen Sie her, Ian, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Ich tat, wie mir geheißen. Rodriguez baute sich an meiner Seite auf und beobachtete Moncata und mich. An der Leuchttafel hingen zwei Fotos, Großaufnahmen, die jeweils ein Stück Haut zeigten.
»Wissen Sie, was das ist?«, fragte Moncata.
»Fotos, die während einer Autopsie gemacht wurden?«
»Fotos von Bisswunden.« Mit einem Bleistift deutete Moncata von einem Foto zum anderen. »Das hier stammt von dem Jungen in der Höhle. Das andere von demjenigen auf dem Tisch da. So, und jetzt kommen Sie noch mal mit.«
Moncata führte mich zu einem kleinen Arbeitsplatz. Auf dem Tisch stand ein eingeschalteter Computer. Moncata klickte das Logo des Cook County auf dem Bildschirm an, dann einen Ordner auf dem Desktop. Auf dem Bildschirm erschienen zwei Fotos, auf denen man Bisswunden erkannte. Moncata tippte etwas auf der Tastatur, woraufhin sich ein Foto löste und über das andere legte. »Das ist die Software, von der ich Ihnen erzählt habe. Mit ihr werden die Bisswunden so differenziert wiedergegeben, dass wir sie miteinander vergleichen können. Wie Sie sehen, ist der Abdruck der Zähne nahezu identisch.«
Ich schaute Rodriguez an, doch der wies auf die Fotos.
»Kommen wir zu den Fotos, die Sie und Ihr Freund mir überlassen haben«, fuhr Moncata fort. »Wie wir wissen, stammen die Fälle, um die es sich dabei dreht, in etwa aus demselben Zeitraum.« Moncata rief die beiden Fotos auf. Nach ein, zwei Anläufen schaffte er es, sie ebenfalls über die beiden anderen zu legen. Wieder war die Übereinstimmung so gut wie perfekt.
»Es ist mir sogar gelungen, an die Fotos zu kommen, auf denen man die Bisswunden an Skylar Wingate sieht.« Moncata sah mich Beifall heischend an, ehe er ein nächstes Foto aufrief und über die anderen vier schob. »Voilà.«
»Wollen Sie damit sagen, dass die Male allesamt von ein und demselben Menschen hinterlassen wurden?«, fragte ich.
»Das kann ich sogar beweisen, junger Mann.«
Ich wandte mich zu Rodriguez um, der mich nicht aus den Augen gelassen hatte.
»Na, wie finden Sie das?«, fragte er.
»Ich bin mir noch nicht sicher.«
»Wie war denn Ihr erster Eindruck?«
»Dass ich es für unmöglich halte.«
»Und warum?«
»Sie haben es
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