Kein Opfer ist vergessen
Drive und fuhr auf der Sheridan weiter nach Norden. »Warum erzählst du mir das alles?«
»Halt mal irgendwo an.«
Havens passierte die Metra-Station Loyola und fuhr auf den Parkplatz eines Hamburger-Ladens. Ich zog die Mappe mit den Fotos aus meinem Rucksack.
»Was sind das für Fotos?«, fragte Havens.
»Unfallfotos, die Rosinas Vater mir gegeben hat.«
Havens schaute die Fotos durch. Rosinas Wagen lag auf dem Dach. Der vordere Teil der Fahrerseite war eingedrückt.
»Rosinas Vater glaubt nicht so recht, dass seine Tochter den Unfall verschuldet hat«, sagte ich. »Wenn du dir den Wagen auf den Fotos anschaust, weißt du auch, warum.«
»Wer hat den Unfall damals aufgenommen?«
»Eine Streife aus Chicago. Der Unfall fand auf der Zufahrtsstraße nach Chicago statt, gleich hinter der Stadtgrenze. Das hier hat Rosinas Vater mir auch gegeben.«
Ich reichte Havens die Kopie des Polizeiberichts. Die krakelige Unterschrift des zuständigen Polizisten war kaum zu entziffern, dafür jedoch der Name, der getippt darunter stand. Marty J. Coursey.
»Irgendjemand ist in Rosinas Wagen gekracht und hat sie getötet«, sagte ich. »Dieser Jemand hat Coursey angerufen, der daraufhin losfuhr, um die Sache zu bereinigen.«
»Und du glaubst –«
»– dass Z dieser Jemand war. Seitdem hat das Trefferkommando sie in der Hand.«
Das Haus, in dem Z wohnte, war im Queen-Anne-Stil gehalten und lag wenige Blocks vom Campus der Northwestern entfernt. Havens und ich hatten abgemacht, dass ich das mit dem Reden übernehme. Abgesehen davon hatten wir nichts, das man als nennenswerten Plan bezeichnen konnte. Ich drückte auf die Klingel am Eingang. Schon im nächsten Augenblick ging die Tür auf.
»Was tun Sie hier?«, fragte Z, warf einen kurzen Blick über die Straße und dirigierte uns ins Haus. Das Wohnzimmer machte einen kalten Eindruck: gefliester Boden, Möbel aus Leder und Stahl, als einziger Farbklecks eine Vase mit violetten Orchideen. Sie ließ uns auf einem harten Sofa Platz nehmen. Mir gegenüber hing ein gerahmter Schwarz-Weiß-Druck, darauf ein Mann, der den Mund zu einem Schrei aufgerissen hatte, auf seinem Knochengesicht schmolz die Haut.
»Warten Sie hier.« Z verschwand.
Ich hörte Eiswürfel in Gläsern klimpern. Z kehrte zurück und trug ein Tablett mit drei Gläsern Limonade vor sich her. Wir hatten um nichts in der Art gebeten, aber jeder nahm sich ein Glas. Z setzte sich uns gegenüber auf einen Stuhl und drehte ihr Glas in den Händen.
»Warum sind Sie nicht im Willows?«, fragte sie schließlich. »Und wo ist Rodriguez?«
»Er arbeitet an einem Fall«, erwiderte ich.
»Hat er Ihnen nicht erklärt, dass –«
»Er hat uns alles erklärt«, unterbrach ich sie. »Aber uns war nicht nach Warten.«
Z stellte ihr Glas ab, sprang auf und lief mit klackenden Absätzen auf und ab. »Anscheinend begreifen Sie nicht, in was für eine Situation Sie sich gebracht haben. Und mich.«
»Doch, tun wir«, sagte ich.
Z blieb stehen und wandte sich um. Ihr Gesicht war rot angelaufen, auf der Oberlippe hatte sich Schweiß gebildet. »Den Eindruck habe ich nicht.«
»Wir sind hier, um über Rosina Rolland zu sprechen«, sagte Havens.
Z fiel auf ihren Stuhl, als hätte man sie erschossen. Sie griff nach ihrem Glas, überlegte es sich anders und ließ die Hände auf ihren Schoß sinken. »Wie war das?«
»Rosina Rolland«, sagte ich. »Vor zwanzig Jahren haben Sie sie getötet. An einem 4. Juli.«
»Den Namen habe ich noch nie gehört.«
»Ich habe Sie gesehen. Auf dem Calvary-Friedhof.«
Z holte ein Handy aus der Hosentasche hervor und begann, eine Nummer einzutippen. »Ich rufe Rodriguez an. Sie müssen sofort ins Willows zurück.«
»Jemand hat Sarah vergewaltigt und will ihn deswegen hinter Gitter bringen.« Havens zeigte mit dem Daumen auf mich.
»Deshalb haben Sie Rodriguez den Tipp mit Theresa Marrero gegeben«, setzte ich hinzu. »Sie wussten, dass ich gelinkt werden sollte, und wollten es verhindern.«
»Als Nächstes könnten wir umgebracht werden«, sagte Havens. »Wenn Sie Sarahs Vergewaltigung schon nicht ertragen, wie sieht es denn dann erst bei Mord aus?«
»Wir können auch wieder gehen«, schlug ich vor. »Sie können hier sitzen und alles Weitere abwarten. Oder Sie helfen uns und werden vielleicht wieder Herr Ihres Lebens.«
Z nickte. Dann stand sie auf und führte uns hoch in den dritten Stock. Sie schloss eine Tür im Dachstuhl auf, und wir traten in ein Zimmer, in dem sich lediglich ein
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