Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
Ruth ihn nach Hause brachte, vergaß er nicht ein einziges Mal, sich zu bedanken. Und am letzten Schultag, bevor er losrannte, um mit seinen Freunden zu spielen, sagte er ihr, dass er sie liebe.
Zu dem Zeitpunkt trug sie sich bereits eine Weile mit der Idee, Daniel zu fragen, ob er ganz bei uns wohnen wolle. Wir sprachen darüber, und ich hätte nichts dagegen gehabt. Daniel um uns zu haben war eine Freude, und das sagte ich ihr auch. Doch gegen Ende des Schuljahrs wusste sie immer noch nicht, wie sie das Thema ihm gegenüber anschneiden sollte. Sie war unsicher, ob Daniel einwilligen würde oder ob er sich so etwas überhaupt wünschte – und natürlich auch, wie sie den Vorschlag seinem Stiefbruder unterbreiten sollte. Ob es gesetzlich erlaubt wäre, stand ebenfalls nicht fest.
Aus all diesen Gründen sagte sie an jenem letzten Schultag vor den Ferien nichts, sondern wir beschlossen, die Sache zu verschieben, bis wir von unserer Sommerreise zurückkehrten. Unterwegs unterhielten Ruth und ich uns oft über Daniel. Wir nahmen uns fest vor, alles zu tun, um ein solches Arrangement zu ermöglichen.
Als wir jedoch wieder nach Greensboro kamen, stand der Schuppen leer, und zwar offenbar seit Wochen. Daniel kam im August nicht in die Schule, und es gab auch keine Anfrage, seine Unterlagen weiterzuleiten. Niemand wusste, wo er war oder was mit der Familie geschehen war. Die anderen Schüler und Lehrer vergaßen ihn bald, doch für Ruth war das Ganze grauenhaft. Sie weinte wochenlang, als ihr klar wurde, dass er vielleicht für immer fortbliebe. Sie suchte die Nachbarn auf, in der Hoffnung, jemand könne ihr sagen, wohin die Familie gezogen war. In unserer Post suchte sie täglich nach einem Brief von ihm, und sie konnte nie ihre Enttäuschung darüber verbergen, dass keiner eintraf.
Daniel hatte ein Loch in Ruth ausgefüllt, das ich nicht ausfüllen konnte. In jenem Jahr war er zu dem geworden, was in unserer Ehe fehlte, das Kind, das sie sich immer gewünscht hatte.
Ich würde so gern berichten, dass Ruth und Daniel einander wiederfanden, dass er sich später im Leben bei ihr meldete, um sie wissen zu lassen, wie es ihm ging. Jahrelang sorgte sie sich um ihn, aber mit der Zeit erwähnte sie seinen Namen seltener, bis sie zum Schluss überhaupt nicht mehr von ihm sprach. Dennoch wusste ich, dass sie ihn nie vergaß und die Suche nach ihm nie aufgab. Es war Daniel, nach dem sie Ausschau hielt, wenn wir über die stillen Landstraßen fuhren, vorbei an heruntergekommenen Bauernhöfen; es war Daniel, den sie zu sehen hoffte, wenn sie nach einem Sommer in den Galerien und Ateliers wieder in die Schule kam. Einmal glaubte sie, ihn während einer Parade am Veteran’s Day in Greensboro auf der Straße entdeckt zu haben, doch als wir uns endlich durch die Menge gedrängt hatten, war er schon fort. Falls er es überhaupt gewesen war.
Nach Daniel kam nie wieder ein Schüler zu uns nach Hause.
I m Auto herrscht eine beißende Kälte, die Folge des vorher geöffneten Fensters. Eiskristalle glitzern jetzt auf dem Armaturenbrett, und bei jedem Atemzug bilden sich Wölk chen vor meinen Lippen. Durst habe ich zwar nicht mehr, dafür fühlen sich meine Kehle und mein Magen eisig an von dem Schnee. Die Kälte ist innen und außen, überall, und ich kann nicht aufhören zu zittern.
Neben mir starrt Ruth aus dem Fenster, und ich stelle fest, dass ich Sternenlicht durch die Scheibe sehe. Es ist noch nicht hell, doch der Mond verleiht dem Schnee auf den Bäumen einen silbrigen Schimmer. Ich erkenne, dass der Tiefpunkt des schlechten Wetters überwunden ist. Heute Nacht wird der Schnee auf dem Wagen noch einmal anfrieren, aber irgendwann morgen oder übermorgen wird die Temperatur steigen, und die Welt wird die weiße Umarmung des Winters abschütteln, weil der Schnee schmilzt.
Das ist gut und schlecht. Mein Auto könnte von der Straße aus sichtbar werden, was gut ist, aber ich brauche den Schnee zum Überleben, und in ein oder zwei Tagen ist er sicher ganz verschwunden.
»Im Moment geht es dir gut«, sagt Ruth. »Mach dir erst Gedanken um morgen, wenn es nötig wird.«
»Du hast leicht reden«, erwidere ich schmollend. »Ich bin hier derjenige, der in der Patsche sitzt.«
»Ja«, sagt sie ungerührt. »Aber es ist deine eigene Schuld. Du hättest nicht fahren dürfen.«
»Sind wir wieder bei dem Thema?«
Mit einem leichten Grinsen wendet sie sich mir zu. Sie ist jetzt Anfang vierzig und trägt die Haare kurz. Ihr Kleid hat
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