Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
er gar nichts gelernt hätte, wäre ich keine gute Lehrerin gewesen.«
»Aber er tat dir auch leid.«
»Natürlich! Sein Leben war nicht leicht. Und doch erfuhr ich nach und nach, dass es viele Kinder wie Daniel gab.«
»Nein«, sage ich. »Für uns beide gab es nur eins.«
E s war Anfang Oktober, als Daniel zum ersten Mal in unser Haus kam, ein schlaksiger, flachsblonder Junge mit ungehobelten Manieren und einer Schüchternheit, mit der ich nicht gerechnet hatte. Bei diesem ersten Besuch schüttelte er mir nicht die Hand und sah mir auch nicht in die Augen. Er stand nur da, die Hände in den Hosentaschen, den Blick starr zu Boden gerichtet. Obwohl Ruth ihm bereits nach der Schule Nachhilfeunterricht gegeben hatte, lernte sie an jenem Abend noch einmal mit ihm am Küchentisch, während ich im Wohnzimmer Radio hörte. Hinterher bestand sie darauf, dass er zum Essen blieb.
Daniel war nicht der erste Schüler, den sie zum Abendessen bei uns einlud, aber er war der Einzige, der fortan regelmäßig kam. Das lag zum Teil an seiner familiären Situation. Daniels Stiefbruder und dessen Frau konnten sich mit ihrem Bauernhof finanziell kaum über Wasser halten und ärgerten sich maßlos, dass der Sheriff angeordnet hatte, Daniel zur Schule zu schicken. Gleichzeitig hatte es den Anschein, als wollten sie ihn auch auf dem Hof nicht um sich haben. An dem Tag, als sich Ruth mit ihnen unterhielt, saßen sie auf der Veranda, rauchten Zigaretten und beantworteten Ruths Fragen desinteressiert und einsilbig. Am nächsten Morgen kam Daniel mit Blutergüssen auf der Wange und einem leuchtend roten Auge in die Schule. Der Anblick brach Ruth fast das Herz, danach war sie nur noch entschlossener, ihm zu helfen.
Aber es waren nicht nur die deutlich sichtbaren Anzeichen von Gewalt, die ihr zu schaffen machten. Wenn sie nach der Schule mit ihm lernte, hörte sie oft seinen Magen knurren, obwohl er abstritt, hungrig zu sein. Als Daniel endlich zugab, manchmal tagelang nichts zu essen zu bekommen, war Ruths erster Impuls, es dem Sheriff zu melden. Daniel flehte sie an, das nicht zu tun, denn er konnte ja sonst nirgends hin. Also lud sie ihn stattdessen zu uns ein.
Nach jenem ersten Besuch aß Daniel zwei bis drei Mal wöchentlich bei uns. Nach und nach fühlte er sich wohler, seine Schüchternheit ließ nach und wich einer beinahe förmlichen Höflichkeit. Er schüttelte mir die Hand, sprach mich mit Mr Levinson an und fragte stets, wie mein Tag gewesen sei. Seine Ernsthaftigkeit machte mich traurig und beeindruckte mich gleichzeitig, vielleicht weil sie offenbar das Ergebnis seines schon in Kindertagen harten Lebens war. Aber ich mochte ihn von Anfang an, und im Laufe des Jahres wuchs er mir noch stärker ans Herz. Ruth jedoch liebte ihn letztlich wie einen Sohn.
Ich weiß, dass ein solches Wort heutzutage unpassend wirkt, wenn es um die Gefühle einer Lehrkraft ihrem Schüler gegenüber geht, und möglicherweise war es auch damals unpassend. Doch es war eben eine mütterliche Liebe, eine aus Zuneigung und Besorgnis entstandene Liebe, und Daniel blühte unter Ruths Obhut auf. Immer wieder hörte ich, wie sie ihm versicherte, dass sie an ihn glaube und dass er alles erreichen könne, was er sich nur wünsche. Und er schien ihr zu glauben. Mehr als alles andere jedoch wollte er ihr gefallen, und er hörte auf, sich im Unterricht schlecht zu benehmen. Er gab sich große Mühe und überraschte Ruth damit, wie leicht ihm das Lernen fiel. Denn er war zwar ungebildet, aber hochintelligent, und im Januar las er bereits so gut wie seine Klassenkameraden. Im Mai war er ihnen zwei Jahre voraus, nicht nur im Lesen, sondern auch in den anderen Fächern. Sein Gedächtnis war bemerkenswert, er war wie ein Schwamm, der alles aufsaugte, was Ruth oder ich ihm sagte.
Als wolle er unbedingt Ruths Innerstes verstehen, zeigte er Interesse an den Kunstwerken in unserem Haus, und nach dem Essen ging Ruth oft mit ihm von Raum zu Raum und erklärte ihm die Gemälde, die wir gesammelt hatten. Dabei hielt er Ruths Hand und hörte genau zu, und seine Augen huschten zwischen den Bildern und ihrem Gesicht hin und her. Bald kannte er die Namen aller Künstler wie auch ihren Malstil, und da wusste ich, dass ihm Ruth genauso viel bedeutete wie er ihr.
Einmal bat Ruth mich, sie zusammen zu fotografieren. Als sie Daniel das Bild hinterher schenkte, hielt er es den ganzen Nachmittag fest umklammert, und ich sah es ihn immer wieder mit staunender Miene betrachten. Wenn
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