Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
ich.
R uth unterrichtete die dritte Klasse, und ihrer Ansicht nach war das die entscheidende Phase im Leben eines Kindes. Die meisten Schüler waren um diese Zeit acht oder neun Jahre, ein Alter, das Ruth immer als pädagogischen Wendepunkt betrachtet hat. Die Kinder sind alt genug, um Begriffe zu verstehen, die ihnen noch ein Jahr vorher fremd waren, aber gleichzeitig noch jung genug, um Anleitung von Erwachsenen mit nahezu blindem Vertrauen zu akzeptieren.
Außerdem war Ruth der Meinung, dass sich ab dieser Klasse intellektuell die ersten echten Unterschiede zeigten. Manche Schüler taten sich hervor, andere fielen zurück. Natürlich gab es dafür zahllose Gründe, doch in jener speziellen Schule damals interessierte das viele der Kinder – und Eltern – nicht. Die Kinder gingen nur bis zur achten oder neunten Klasse zur Schule und arbeiteten danach auf dem Bauernhof mit, ohne Alternativen in Erwägung zu ziehen. Selbst für Ruth war das eine schwer zu meisternde Herausforderung. Das Problem hielt sie nachts wach, und sie bastelte jahrelang an ihrem Lehrplan herum, auf der Suche nach Methoden, zu den Schülern und ihren Eltern durchzudringen. Sie ließ sie Samen in Pappbecher pflanzen und sie beschriften, um sie zum Schreiben anzuregen, ließ sie Käfer fangen und ebenfalls benennen, in der Hoffnung, eine Neugier für die Natur zu entfachen. Mathematiktests beinhalteten immer Aufgaben über die Landwirtschaft oder Geld: Wenn Joe vier Körbe Pfirsiche von jedem Baum erntet und in jeder der sechs Reihen je fünf Bäume stehen, wie viele Körbe Pfirsiche kann Joe dann verkaufen? Oder: Wenn du 200 Dollar hast und Saatgut für 120 Dollar kaufst, wie viel Geld bleibt dir dann übrig? Das waren Themen, deren Wichtigkeit den Schülern einleuchtete – und in der Mehrzahl erreichte Ruth damit ihr Ziel. Manche brachen trotzdem die Schule ab, doch Jahre später kamen sie oft zu Be such und bedankten sich bei ihr dafür, lesen, schreiben und die Grundrechenarten gelernt zu haben, die sie für ihren Alltag benötigten.
Darauf war Ruth stolz – und natürlich war sie besonders stolz auf die Schüler, die letzten Endes ihren Schulabschluss machten und aufs College gingen. Hin und wieder aber war ein Kind dabei, das ihr vor Augen führte, warum sie überhaupt Lehrerin geworden war. Und das führt mich zu dem Bild über dem Kamin.
» D u denkst an Daniel McCallum«, sagt sie zu mir.
»Ja. Deinen Lieblingsschüler.«
Ihre Miene ist lebhaft, und ich weiß, dass sie ihn genauso deutlich vor sich sieht wie an dem Tag, an dem sie ihm zum ersten Mal begegnete. Damals unterrichtete sie bereits seit fünfzehn Jahren.
»Er war sehr schwierig.«
»So hast du es mir erzählt.«
»Anfangs war er so wild! Seine Latzhose war ständig schmutzig, und er konnte nie stillsitzen.«
»Aber du hast ihm das Lesen beigebracht.«
»Das habe ich allen beigebracht.«
»Er war anders als die anderen.«
»Ja«, sagt sie. »Er war größer als die übrigen Jungen, und in der Pause boxte er die anderen so heftig auf den Arm, dass sie blaue Flecke bekamen. Wegen Daniel McCallum bekam ich meine ersten grauen Haare.«
Ich erinnere mich noch gut an ihre Klagen über ihn, doch damals wie heute schwang in ihrer Stimme Zuneigung mit.
»Er war noch nie zur Schule gegangen. Er kannte die Regeln nicht.«
»Doch, die Regeln kannte er. Aber zu Anfang kümmerten sie ihn nicht. Er saß hinter einem hübschen Mädchen namens Abigail und zog sie andauernd an den Haaren. Wenn ich zu ihm sagte: ›Das darfst du nicht‹, tat er es trotzdem. Am Ende musste ich ihn in die erste Reihe setzen, wo ich ihn besser im Auge hatte.«
»Und da hast du bemerkt, dass er nicht lesen und schreiben konnte.«
»Genau.« Immer noch klingt ihre Stimme bitter.
»Und als du mit seinen Eltern sprechen wolltest, erfuhrst du, dass sie gestorben waren. Daniel wurde von einem älteren Stiefbruder und dessen Frau aufgezogen, die beide dagegen waren, dass er überhaupt die Schule besuchte. Und du sahst, dass die drei mehr oder minder in einem Schuppen wohnten.«
»Das weißt du, weil du mich damals zu ihm nach Hause begleitet hast.«
Ich nicke. »Auf dem Heimweg warst du sehr still.«
»Es bedrückte mich, dass in diesem reichen Land manche Menschen immer noch so lebten. Und es bedrückte mich, dass es niemanden gab, dem Daniel etwas bedeutete.«
»Also hast du beschlossen, ihm Nachhilfe zu geben. Vor und nach der Schule.«
»Er saß in der ersten Reihe«, sagt sie. »Wenn
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