Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
wie es wohl enden würde.
KAPITEL 2 8
Ira
Als ich aufwache, ist mein erster Gedanke, dass ich stetig schwächer werde. Anstatt mir Kraft zu geben, hat der Schlaf mir ein paar der kostbaren Stunden geraubt, die mir noch bleiben.
Morgenlicht fällt schräg durch die Fenster herein, vom Schnee grell reflektiert. Ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Es ist Montag, mehr als sechsunddreißig Stunden nach dem Unfall. Wer hätte gedacht, dass einem alten Mann wie mir so etwas passiert? Was für ein Lebenswille. Aber ich war schon immer hart im Nehmen, ich fürchte nichts, nicht einmal den Schmerz. Es wird langsam Zeit, die Wagentür zu öffnen und die Böschung hochzuklettern, um ein Auto anzuhalten. Wenn niemand zu mir kommt, muss ich mich eben selbst befreien.
Wem will ich hier etwas vormachen?
Das ist natürlich völlig ausgeschlossen. Der Schmerz ist so stark, dass ich sämtliche Reserven aufbieten muss, um die Welt vor meinen Augen wieder scharf zu stellen. Einen Moment lang fühle ich mich von meinem Körper abgespalten, ich sehe mich selbst über das Lenkrad gebeugt, in einem desolaten Zustand. Zum ersten Mal seit dem Unfall bin ich mir sicher, dass ich mich unmöglich noch bewegen kann. Es ist bald so weit, viel Zeit bleibt mir nicht mehr. Das sollte mir Angst einjagen, tut es aber nicht. Im Grunde warte ich seit neun Jahren darauf, zu sterben.
Ich bin nicht zum Alleinsein geschaffen. Es liegt mir nicht. Die Jahre nach Ruths Tod sind in der verzweifelten Stille verstrichen, die nur alte Menschen kennen. Es ist eine Stille, die aus der Einsamkeit und dem Wissen entsteht, dass die guten Jahre in der Vergangenheit liegen, noch verstärkt durch die physischen Beschwerden des Alters.
Der menschliche Körper ist nicht dazu gemacht, fast ein Jahrhundert zu leben. Ich spreche aus Erfahrung. Zwei Jahre nach Ruths Tod hatte ich einen kleinen Herzinfarkt, ich schaffte es gerade noch, den Notarzt zu rufen, ehe ich bewusstlos zu Boden stürzte. Wiederum zwei Jahre später bekam ich Gleichgewichtsstörungen und kaufte mir den Rollator, um nicht jedes Mal in die Rosensträucher zu kip pen, wenn ich mich mal aus dem Haus wagte.
Die Pflege meines Vaters hatte mich gelehrt, auf solche Beeinträchtigungen gefasst zu sein. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, waren die geringfügigeren Beschränkungen, Kleinigkeiten, die früher so einfach, jetzt aber nicht mehr zu bewältigen waren. Ich kann kein Marmeladenglas mehr aufschrauben, das lasse ich die Kassiererin im Supermarkt für mich machen, bevor sie es in meine Tüte steckt. Meine Hände zittern so stark, dass meine Schrift kaum noch lesbar ist, wodurch es schwierig wird, Rechnungen zu bezahlen. Ich kann nur bei hellstem Licht lesen, und ohne mein Gebiss kann ich nur Suppe essen. Selbst nachts ist das Alter quälend. Ich brauche ewig, um einzuschlafen, und wache nach wenigen Stunden wieder auf. Dazu noch die Medikamente, so viele Pillen, dass ich mir eine Tabelle an den Kühlschrank heften musste, um nichts zu vergessen. Tabletten gegen Arthritis und Bluthochdruck und erhöhte Cholesterinwerte, manche beim Essen einzunehmen, andere nüchtern, und mir wurde geraten, immer Nitroglyzerin bei mir zu haben, für den Fall, dass der stechende Schmerz in der Brust wieder auftritt. Bevor der Krebs entdeckt wurde – ein Krebs, der an mir nagen wird, bis ich nur noch Haut und Knochen bin –, fragte ich mich gelegentlich, welche Demütigung die Zukunft mir wohl als Nächstes bescheren würde. Und Gott in seiner Weis heit hat die Antwort geliefert. Wie wäre es mit einem Unfall! Brechen wir ihm doch die Knochen und vergraben ihn im Schnee! Manchmal glaube ich, Gott hat einen merkwürdigen Sinn für Humor.
Hätte ich das zu Ruth gesagt, sie hätte nicht gelacht. Sie hätte gesagt, ich soll dankbar sein, denn nicht jeder wird mit einem langen Leben beschenkt. Sie hätte gesagt, der Unfall war meine Schuld. Und dann hätte sie mit einem Achselzucken erklärt, dass ich überlebt habe, weil unsere Geschichte noch nicht zu Ende sei.
Was ist aus mir geworden? Und was wird aus der Sammlung werden?
Ich habe neun Jahre gebraucht, um diese Fragen zu beantworten, und ich glaube, Ruth wäre zufrieden mit mir. Diese Zeit habe ich umgeben von ihrer Leidenschaft verbracht, habe meine Jahre in ihrer Umarmung verbracht. Wo ich auch hinsah, wurde ich an sie erinnert, und jeden Abend betrachte ich vor dem Schlafengehen das Bild über dem Kamin, in dem tröstlichen Wissen, dass
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