Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
hatte sich schon lange verflüchtigt.«
»Das sind doch Ausreden.« Sie wedelt mit der Hand. »Aber jetzt ist nicht die Zeit dafür. Ich habe mir damals große Sorgen um dich gemacht.«
»Das konntest du gar nicht. Du warst nicht da. Das war ja genau das Problem.«
Sie kneift die Augen zusammen, und ich weiß, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe. Sie legt den Kopf schief, das Morgenlicht wirft einen Schatten auf eine Gesichtshälfte.
»Warum sagst du das?«
»Weil es stimmt.«
»Wie kann ich dann jetzt hier sein?«
»Bist du vielleicht gar nicht.«
»Ira.« Sie schüttelt den Kopf und spricht mit mir, wie sie früher vermutlich mit ihren Schülern gesprochen hat. »Kannst du mich sehen? Kannst du mich hören?« Sie beugt sich vor und legt ihre Hand auf meine. »Kannst du das spüren?«
Ihre Hand ist warm und weich, so vertraut.
»Ja«, sage ich. »Aber damals konnte ich es nicht.«
Sie lächelt zufrieden, als sei das der Beweis, dass sie recht hat. »Eben, weil du nichts gegessen hast.«
I n jeder langen Ehe kristallisiert sich eine Wahrheit heraus, und diese Wahrheit lautet: Unsere Partner kennen uns manchmal besser als wir uns selbst.
Ruth bildete da keine Ausnahme. Sie kannte mich. Sie wusste, wie sehr ich sie vermissen würde, sie wusste, wie sehr ich eine Nachricht von ihr brauchen würde. Und sie wusste auch, dass ich einmal derjenige wäre, der allein zurückbliebe, nicht sie. Das ist die vernünftige Erklärung, und ich habe sie im Laufe der Jahre nie angezweifelt. Ruths einziger Fehler war, dass ich erst fand, was sie mir hinter lassen hatte, als meine Wangen schon eingefallen und meine Arme dürr wie Zahnstocher waren. Von dem Tag, an dem ich meine Entdeckung machte, weiß ich nicht mehr viel. Zu dem Zeitpunkt waren alle Tage bereits austauschbar, ohne Bedeutung, und erst in der Dämmerung fiel mein Blick auf das Kästchen mit den Briefen, das auf Ruths Kommode stand.
Seit ihrem Tod hatte ich es jeden Abend gesehen. Da es jedoch ihre Briefe waren, nicht meine, ging ich irriger weise davon aus, dass es mich noch trauriger machen würde, wenn ich sie anschaute. Sie würden mich daran erinnern, wie sehr Ruth mir fehlte, würden mich an all das erinnern, was ich verloren hatte. Und diese Vorstellung war unerträglich. Das hätte ich nicht verkraftet. Und doch zwang ich mich an jenem Abend, vielleicht weil ich meinen Gefühlen gegenüber inzwischen so abgestumpft war, aus dem Bett und holte mir das Kästchen. Ich wollte mich wieder erinnern, und wenn nur für eine Nacht, selbst wenn es schmerzte.
Das Kästchen war seltsam leicht, und als ich den De ckel aufklappte, wehte mir ein Hauch der Handcreme in die Nase, die Ruth immer benutzt hatte. Nur schwach, aber erkennbar, und sofort begannen meine Hände zu zittern. Aber ich war nicht mehr von meinem Plan abzubringen und griff nach dem ersten Hochzeitstagsbrief, den ich ihr geschenkt hatte.
Der Umschlag war spröde und leicht vergilbt. Ihren Namen hatte ich mit einer Sicherheit geschrieben, die mir schon vor langer Zeit abhandengekommen war, und erneut wurde ich an mein Alter erinnert. Ich zog den knisternden Bogen heraus und hielt ihn ins Licht.
Anfangs waren mir die Sätze fremd, ich erkannte sie nicht als meine. Ich machte eine Pause und versuchte es erneut, konzentrierte mich auf die einzelnen Worte. Und da spürte ich Ruth allmählich neben mir Gestalt annehmen. Sie ist hier, dachte ich. Mein Puls raste, als ich weiterlas, das Schlafzimmer um mich herum löste sich auf. Ich wurde an den See in die frische Bergluft des Spätsommers zurückversetzt. Das College stand einsam und verlassen im Hintergrund, während Ruth den Brief in der Hand hielt und ihre Augen über die Zeilen huschten.
Ich habe Dich hergebracht, an den Ort, an dem die Kunst für mich zum ersten Mal eine wahre Bedeutung bekam, und obwohl er nie wieder wie früher sein wird, bleibt er doch für immer unser Ort. Hier wurde ich daran erinnert, warum ich mich damals in Dich verliebte. Hier begannen wir unser neues Leben zusammen.
A ls ich den Brief zu Ende gelesen hatte, steckte ich ihn in den Umschlag zurück und legte ihn fort. Ich nahm den zweiten, dann noch einen und noch einen. Die Worte flossen mühelos von einem Jahr zum nächsten, und mit ihnen kehrten die Erinnerungen an die Sommer zurück, die sich mir in meiner Depression entzogen hatten. Bei einer Pas sage, die ich zu unserem sechzehnten Hochzeitstag geschrie ben hatte, verweilte ich für einen Moment.
Ich
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