Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
wünschte, ich hätte die Begabung, zu malen, was ich für Dich empfinde, denn meine Worte erscheinen mir immer unzulänglich. Ich würde Rot für Deine Leidenschaft verwenden und Hellblau für Deine Herzensgüte, Waldgrün, um die Tiefe Deines Einfühlungsvermögens darzustellen, und ein leuchtendes Gelb für Deinen unerschöpflichen Optimismus. Und doch zweifle ich, ob selbst die Palette eines Künstlers das ganze Spektrum dessen erfassen kann, was Du mir bedeutest.
E twas später kam ein Brief, den ich mitten in den dunklen Jahren verfasst hatte, nachdem wir erfahren hatten, dass Daniel fortgezogen war.
Ich sehe Deinen Kummer und weiß nicht, was ich tun soll, außer mir zu wünschen, Deinen Verlust irgendwie lindern zu können. So gern möchte ich Dir helfen, doch es liegt nicht in meiner Macht. Das tut mir unendlich leid. Als Dein Mann kann ich Dir aber zuhören und Dich im Arm halten und kann Deine Tränen fortküssen, wenn ich darf.
S o ging es weiter, ein ganzes Leben in einem Kästchen, ein Brief nach dem anderen. Vor dem Fenster ging der Mond auf und wanderte schließlich außer Sicht, während ich las und las. Jeder Brief atmete und bekräftigte meine Liebe zu Ruth, veredelt durch unsere langen gemeinsamen Jahre. Und Ruth, erfuhr ich, hatte mich ebenfalls sehr geliebt, denn unter den Stapel hatte sie ein Geschenk für mich gelegt.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Dass Ruth mich immer noch überraschen konnte, selbst aus dem Jenseits, kam völlig unerwartet. Ich starrte den Umschlag ganz unten in dem Kästchen an und versuchte, mir vorzustellen, wann sie ihn geschrieben und warum sie mir nie etwas davon erzählt hatte.
Diesen Brief habe ich in den vergangenen Jahren oft gelesen, so oft, dass ich ihn auswendig kann. Sie hielt ihn in der Gewissheit vor mir geheim, dass ich ihn in der Stunde meiner größten Not finden würde, das ist mir heute klar. Denn sie wusste, dass ich eines Tages meine Briefe an sie lesen würde, sie hatte vorausgeahnt, dass ich irgendwann dem Sog nicht mehr würde widerstehen können. Und am Ende geschah es genau so, wie sie es geplant hatte.
In jener Nacht aber dachte ich daran nicht. Ich nahm nur mit zitternden Händen den Brief und las.
Mein liebster Ira,
ich schreibe diesen Brief, während Du nebenan im Bett schläfst. Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll, denn wir wissen beide, warum Du ihn liest und was er bedeutet. Und ich bedaure Dich für das, was Du jetzt sicherlich zu ertragen hast.
Im Gegensatz zu Dir bin ich keine gute Briefschreiberin, dabei möchte ich so vieles sagen. Vielleicht ginge es mir leichter von der Hand, wenn ich auf Deutsch schriebe, aber dann könntest Du es nicht lesen. Mein Brief an Dich soll sein wie die, die ich immer von Dir bekam. Leider konnte ich mit Worten nie so gut umgehen wie Du. Aber ich will es versuchen. Das verdienst Du, nicht nur, weil Du mein Ehemann bist, sondern weil Du der Mensch bist, der Du bist.
Ich sollte wohl mit etwas Romantischem anfangen, einer Erinnerung oder Geste, die zum Ausdruck bringt, was für ein Mann Du mir warst: das lange Wochenende am Strand, als wir uns zum ersten Mal liebten, zum Beispiel, oder unsere Flitterwochen, bei denen Du mir sechs Gemälde schenktest. Oder vielleicht sollte ich von Deinen Briefen an mich sprechen oder der Art, wie Du mich ansahst, wenn ich ein Kunstwerk betrachtete. Und doch liegt die Wahrheit in den stillen Kleinigkeiten unseres gemeinsamen Lebens, in denen ich am meisten Bedeutung fand. Wenn Du mich beim Frühstück anlächeltest, machte mein Herz immer einen Satz, und wenn Du meine Hand nahmst, wusste ich wieder, dass alles auf der Welt seine Richtigkeit hat. Du siehst also, nur eine Handvoll einzelner Erlebnisse auszuwählen, kommt mir falsch vor – lieber sehe ich Dich im Geiste in einhundert Galerien und Hotelzimmern, lieber denke ich an eintausend kleine Küsse und in Deiner vertrauten Umarmung verbrachte Nächte. Jede dieser Erinnerungen würde einen eigenen Brief verdienen – für die Empfindungen, die Du in mir hervorriefst. Dafür habe ich Dich geliebt, mehr, als Du jemals ahnen kannst.
Ich weiß, dass Du leidest, und ich würde alles geben, um Dich trösten zu dürfen. Es ist für mich unvorstellbar, dass ich das nie wieder tun kann, wenn Du diesen Brief liest. Meine Bitte an Dich ist: Vergiss trotz Deiner Traurigkeit nicht, wie glücklich Du mich gemacht hast. Vergiss nicht, dass ich einen Mann geliebt habe, der diese Liebe erwiderte, und das war das
Weitere Kostenlose Bücher