Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
es noch nicht. Als wir schließlich bei der Fabrik ankamen, wo wir damals wohnten, sagte ich: ›Danke, dass du mich begleitet hast, Ira‹, und du hast nur geantwortet: ›Bitte.‹ Und damit hast du dich umgedreht, meinen Eltern zugenickt und bist gegangen.«
»Aber in der nächsten Woche war es besser.«
»Ja. Du hast über das Wetter gesprochen. Du sagtest: ›Ganz schön wolkig heute.‹ Drei Mal. Zwei Mal hast du noch ergänzt: ›Ob es wohl später noch regnet?‹ Deine Re degewandtheit war wirklich bestechend. Das Wort hat mir übrigens deine Mutter beigebracht.«
»Trotzdem wolltest du gern mit mir spazieren gehen.«
»Ja.« Sie sieht mich direkt an.
»Und Anfang August habe ich dich gefragt, ob ich dir einen Schoko-Soda-Eisbecher kaufen darf. Genau wie David Epstein immer.«
Sie streicht sich eine lose Strähne aus dem Gesicht, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Und ich weiß noch, dass ich zu dir sagte, das sei der köstlichste Schoko-Soda-Eisbecher, den ich je gegessen hätte.«
So begann es mit uns. Es war kein aufregendes Abenteuer oder die Art von märchenhafter Liebesgeschichte, wie man sie aus Filmen kennt, aber es kam mir vor wie eine göttliche Fügung. Dass Ruth etwas Besonderes in mir sah, war für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, doch ich war schlau genug, die Chance zu ergreifen. Von da an verbrachten wir den Großteil unserer freien Zeit miteinander, auch wenn das Ende des Sommers bereits nahte. Jenseits des Atlantiks hatte Frankreich schon kapituliert, und die Luftschlacht um England war in vollem Gange, aber dennoch schien der Krieg in jenen Wochen weit entfernt zu sein. Ruth und ich gingen im Park spazieren und redeten endlos miteinander. Wie David vorher kaufte ich ihr Schoko-Soda-Eisbecher. Zweimal lud ich sie ins Kino ein, und einmal führte ich sie und ihre Mut ter zum Mittagessen aus. Und immer begleitete ich sie von der Synagoge nach Hause, während ihre Eltern zehn Schritte Abstand hielten, damit wir etwas ungestörter waren.
»Nach einer Weile mochten deine Eltern mich.«
»Ja.« Sie nickt. »Aber das lag daran, dass ich dich mochte. Du brachtest mich zum Lachen, und du warst der Erste in diesem Land, mit dem ich lachte. Mein Vater fragte mich oft, was ich denn so lustig gefunden habe, und ich erklärte ihm, es sei weniger, was du sagtest, als die Art, wie du etwas sagtest. Deine Grimasse zum Beispiel, wenn du die Kochkünste deiner Mutter beschriebst.«
»Meine Mutter konnte Wasser anbrennen lassen und war nie auch nur imstande, ein Ei zu kochen.«
»So schlimm war sie nicht.«
»Als Kind habe ich gelernt, zu essen und gleichzeitig die Luft anzuhalten. Warum, glaubst du, waren mein Vater und ich dünn wie Strohhalme?«
Ruth schüttelt den Kopf. »Wenn deine Mutter gewusst hätte, was für schreckliche Dinge du sagst ...«
»Das wäre egal gewesen. Sie wusste, dass sie nicht gut kochen konnte.«
Ruth schweigt für einen Moment. »Ich wünschte, wir hätten in jenem Sommer mehr Zeit gehabt. Ich war sehr traurig, als du zurück zum College musstest.«
»Selbst wenn ich geblieben wäre, hätte es nichts geholfen. Denn du bist auch weggezogen. Nach Wellesley.«
Sie nickt, aber ihr Blick ist abwesend. »Ich hatte großes Glück, diese Chance zu bekommen. Mein Vater kannte einen Professor dort, der mir viel geholfen hat. Aber trotzdem war das Jahr sehr schwer für mich. Du hattest Sarah zwar nicht geschrieben, aber ich wusste, du würdest sie wieder treffen, und ich machte mir Sorgen, du könntest doch noch Gefühle für sie entwickeln. Und ich hatte Angst, Sarah würde das Gleiche in dir sehen wie ich und ihre Reize einsetzen, um dich mir wegzunehmen.«
»Das wäre niemals passiert.«
»Jetzt weiß ich das, aber damals wusste ich es nicht.«
Ich bewege ganz leicht den Kopf, und sofort flackern weiße Blitze in meinen Augenwinkeln auf, als würde mir ein Nagel in den Schädel getrieben. Ich schließe die Augen und warte darauf, dass der Schmerz vergeht, aber es dauert schier endlos. Konzentriert versuche ich, langsam zu atmen, und allmählich lässt er nach. Stückchenweise kehrt die Welt zurück, und ich denke wieder an den Unfall. Mein Gesicht klebt, und der schlaffe Airbag ist voller Staub und Blut. Das Blut macht mir Angst, doch trotz allem ist ein Zauber im Auto, ein Zauber, der Ruth zu mir zurückgebracht hat. Ich schlucke, um meine Kehle zu befeuchten, kann aber keine Flüssigkeit erzeugen. Mein Hals fühlt sich an wie Schmirgelpapier.
Ich weiß, dass
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