Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
Hand gehalten, als du mich zur Tür brachtest, was du vorher noch nie getan hattest. Ich erinnere mich, weil mein Arm davon kribbelte, und dann bliebst du stehen und sahst mich an, und in dem Augenblick wusste ich genau, was passieren würde.«
»Ich habe dir einen Gutenachtkuss gegeben.«
»Nein«, sagte Ruth, und ihre Stimme verdunkelt sich verführerisch. »Es war ein Kuss, das schon, aber nicht nur ein Gutenachtkuss. Damals schon spürte ich die Verheißung darin, die Verheißung, dass du mich auf immer genau so küssen würdest.«
I ch kann mich noch gut an den Moment erinnern – ihre Lippen auf meinen, das Gefühl von Aufregung und reinem Staunen, als ich sie in meinen Armen hielt. Aber plötzlich fängt die Welt im Wagen an, sich zu drehen. Heftig zu drehen, als säße ich in einer Achterbahn, die sich selbstständig gemacht hat, und schlagartig verschwindet Ruth aus meinen Armen. Stattdessen liegt mein Kopf schwer auf dem Lenkrad, und ich zwinkere schnell, damit das Kreiseln aufhört. Ich brauche Wasser, ein einziger Schluck würde sicher ausreichen, um das Karussell anzuhalten. Aber es gibt kein Wasser, und ich gebe dem Schwindel nach, bis alles schwarz wird.
A ls ich aufwache, kehrt die Welt nur langsam zurück. Ich blinzle in die Dunkelheit, doch Ruth ist nicht mehr neben mir auf dem Beifahrersitz. Ich möchte sie unbedingt zurückholen. Deshalb konzentriere ich mich, versuche, ihr Bild heraufzubeschwören, aber es kommt nichts, und meine Kehle zieht sich zu.
Rückblickend hatte Ruth recht, was mich betrifft. In jenem Sommer hatte sich die Welt verändert, und ich begriff, dass ich jegliche Zeit, die ich mit Ruth verbrachte, als kostbar ansehen musste. Japan und China lagen bereits vier Jahre miteinander im Krieg, und im Frühling 1 941 waren noch weitere Länder von der Wehrmacht erobert worden, einschließlich Jugoslawien und Griechenland. Die Engländer hatten sich vor Rommels Afrikakorps bis nach Ägypten zurückgezogen. Der Suez-Kanal war bedroht, und auch wenn ich das damals noch nicht wusste, waren deutsche Panzer und Infanterie bereits in Stellung gebracht, um in Russland einzumarschieren. Ich fragte mich, wie lange Amerika noch neutral bleiben würde.
Ich hatte nie davon geträumt, Soldat zu sein. Ich hatte nie eine Waffe abgefeuert. Weder damals noch überhaupt je war ich ein Kämpfer gewesen, aber ich liebte mein Land und verbrachte in jenem Jahr viel Zeit damit, mir eine vom Krieg verzerrte Zukunft auszumalen. Und nicht nur ich ver suchte angestrengt, mit dieser neuen Welt zurechtzukom men. Den ganzen Sommer über las mein Vater zwei oder drei Zeitungen am Tag und hörte ununterbrochen Radio, und meine Mutter meldete sich freiwillig zum Roten Kreuz. Ruths Eltern hatten besonders große Angst, und oft saßen sie am Tisch, steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise und eindringlich. Seit Monaten hatten sie von keinem ihrer Verwandten gehört. Das liegt am Krieg, flüsterten manche. Doch selbst in North Carolina sprachen sich allmählich Gerüchte darüber herum, was mit den Juden in Polen geschah.
Trotz der Angst oder vielleicht auch gerade deswegen, habe ich den Sommer 1 9 41 immer als meinen letzten Sommer der Unschuld betrachtet. Es war der Sommer, in dem Ruth und ich beinahe unsere gesamte freie Zeit miteinander verbrachten und uns immer stärker verliebten. Sie besuchte mich im Geschäft oder ich sie in der Fabrik – in jenem Sommer arbeitete sie für ihren Onkel als Sekretärin –, und abends gingen wir unter den Sternen spazieren. Jeden Sonn tag picknickten wir im nahe gelegenen Park. Abends kam sie manchmal zu uns nach Hause, oder ich ging zu ihr, wo wir uns klassische Musik auf dem Phonographen anhörten. Als sich der Sommer dem Ende zuneigte und Ruth den Zug nach Massachusetts bestieg, zog ich mich am Bahnhof in eine Ecke zurück und vergrub das Gesicht in den Händen, weil ich wusste, dass diese Zeiten für immer vorbei waren. Früher oder später würde ich eingezogen werden.
Und ein paar Monate später, am 7. Dezember 1 941, bestätigte sich meine Befürchtung.
I m Laufe der Nacht verliere ich immer wieder das Bewusstsein. Wind und Schneefall halten unvermindert an. In den wachen Momenten frage ich mich, ob es jemals wieder hell wird. Ich frage mich, ob ich je wieder einen Sonnenaufgang erleben werde. Hauptsächlich jedoch konzentriere ich mich auf die Vergangenheit und hoffe, dass Ruth erneut erscheint. Ohne sie, denke ich mir, bin ich schon tot.
Als
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