Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
ein Wort zu mir sagen würdest. Du warst seit einem Monat vom College zurück, und immer noch hattest du mich nicht angesprochen. Also ging ich nach dem Sabbat-Gottesdienst zu dir. Ich sah dir genau in die Augen und sagte: ›Ich treffe mich nicht mehr mit David Epstein.‹«
»Das weiß ich noch«, sage ich.
»Und weißt du auch noch, was du mir geantwortet hast? Du sagtest: ›Aha‹, und dann bist du rot geworden und hast deine Füße angestarrt.«
»Da musst du dich irren.«
»Du weißt genau, dass es so war. Danach habe ich dir mitgeteilt, dass ich von dir nach Hause begleitet werden möchte.«
»Ich erinnere mich, dass dein Vater nicht so begeistert davon war.«
»Er glaubte, aus David würde mal ein anständiger junger Mann. Dich kannte er nicht.«
»Und gemocht hat er mich auch nicht«, warf ich ein. »Den ganzen Weg lang spürte ich seinen bohrenden Blick im Hinterkopf. Deshalb behielt ich die Hände in den Hosentaschen.«
Sie legt den Kopf schief und mustert mich. »Ist das der Grund, warum du nichts zu mir gesagt hast?«
»Ich wollte ihm zeigen, dass meine Absichten ehrbar waren.«
»Zu Hause hat er mich gefragt, ob du stumm wärst. Ich musste ihn noch einmal daran erinnern, dass du ein hervorragender Student warst und sehr gute Noten hattest und dass du bereits in drei Jahren deinen Abschluss machen würdest. Wann immer ich mich mit deiner Mutter unterhielt, sorgte sie dafür, dass ich das wusste.«
Meine Mutter. Die Kupplerin.
»Es wäre anders gewesen, wenn deine Eltern nicht hinter uns hergelaufen wären«, sage ich. »Hätten sie nicht den Anstandshund gespielt, dann hätte ich dir den Kopf verdreht. Ich hätte deine Hand genommen und dir ein Ständchen gesungen. Ich hätte dir einen Blumenstrauß gepflückt. Du wärst dahingeschmolzen.«
»Ja, ich weiß. Der junge Frank Sinatra. «
»Ich versuche nur, die Geschichte korrekt zu erzählen. Es gab ein Mädchen in der Schule, das ein Auge auf mich geworfen hatte. Sarah.«
Ruth nickt, sie wirkt unbesorgt. »Von ihr hat mir deine Mutter ebenfalls erzählt. Und sie hat gesagt, dass du ihr seit deiner Rückkehr weder geschrieben noch sie angerufen hattest. Ich wusste, das war nichts Ernstes.«
»Wie oft hast du mit meiner Mutter gesprochen?«
»Am Anfang nicht allzu oft, und meine Mutter war immer dabei. Aber ein paar Monate, bevor du nach Hause kamst, habe ich deine Mutter gebeten, mit mir Englisch zu üben, und daraufhin trafen wir uns ein oder zwei Mal pro Woche. Sie konnte gut erklären. Ich habe immer gesagt, dass ich meines Vaters wegen Lehrerin wurde, und das stimmt auch, aber auch wegen deiner Mutter. Sie war sehr geduldig mit mir. Sie erzählte mir Geschichten, und auch damit half sie mir bei der Sprache. Sie sagte, ich müsse selbst lernen, Geschichten zu erzählen, denn jeder im Süden tue das.«
Ich lächle. »Was für Geschichten hat sie dir erzählt?«
»Geschichten über dich.«
Das weiß ich natürlich. In jeder langen Ehe gibt es nur noch wenige Geheimnisse.
»Welche mochtest du am liebsten?«
Sie denkt kurz nach. »Die, als du ein kleiner Junge warst«, sagt sie schließlich. »Deine Mutter erzählte mir, du hättest ein verletztes Eichhörnchen gefunden, und obwohl dein Vater dir verbot, es mit in den Laden zu bringen, hast du es in einer Schachtel hinter der Nähmaschine versteckt und gesund gepflegt. Sobald es ihm besser ging, hast du es im Park freigelassen. Es lief sofort weg, aber du gingst trotzdem jeden Tag hin und suchtest danach, falls es deine Hilfe noch einmal brauchen würde. Deine Mutter sagte immer, das sei ein Zeichen dafür, dass dein Herz rein sei, dass du fähig zu tiefer Zuneigung seist und dass du, wenn du etwas – oder jemanden – erst einmal liebtest, es oder ihn immer lieben würdest.«
Wie gesagt, alte Kupplerin.
Erst nach Ruths und meiner Hochzeit gab meine Mutter mir gegenüber zu, dass sie Ruth »unterrichtet« hatte, indem sie ihr Geschichten über mich erzählte. Damals war ich nicht so begeistert davon. Ich wollte gern glauben, ich hätte Ruths Herz allein erobert, und das sagte ich ihr auch. Meine Mutter lachte und meinte, sie habe nur getan, was Mütter schon immer für ihre Söhne getan hätten. Dann sagte sie, es sei meine Aufgabe, zu beweisen, dass sie nicht gelogen habe, denn das sollten Söhne für ihre Mütter tun.
»Und ich dachte immer, ich sei charmant.«
»Du wurdest auch charmant, sobald du keine Angst mehr vor mir hattest. Aber auf diesem ersten Spaziergang warst du
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