Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
gewaltige Löcher in den Flügel des Flugzeugs gerissen wurden. Als ein Motor ausfiel, geriet es ins Taumeln, und das Heulen war lauter als alles, was ich je zuvor gehört hatte. Bud kämpfte mit der Steuerung, da sackte der Flügel ab, die Maschine verlor an Höhe, Rauch quoll aus dem Heck. Die Jagdflieger näherten sich erneut zum Angriff, und weitere Flakgeschosse durch schlugen den Rumpf. Wir sackten um tausend Fuß ab, dann zweitausend. Fünftausend. Achttausend. Irgendwie gelang es Bud, die Flügel wieder waagerecht auszurichten, und wie ein Fabelwesen stieg das Flugzeug plötzlich mit dem Bug voran wieder nach oben. Es war ein Wunder, dass wir uns noch in der Luft befanden, aber wir waren von der Formation getrennt worden, flogen ganz allein über feindlichem Gebiet, und immer noch feuerte die Flak auf uns.
In dem verzweifelten Versuch, zu entkommen, hatte Bud uns gerade Richtung Stützpunkt gewendet, als das Cockpit von Flakgeschossen erschüttert wurde. Joe wurde getroffen, und instinktiv drehte er sich zu mir um. Er riss ungläubig die Augen auf und sagte lautlos meinen Namen. Ich machte einen Satz in seine Richtung, um etwas zu tun – irgendetwas –, da stürzte ich auf einmal, und sämtliche Kraft wich aus meinem Körper. Ich begriff nicht, was passiert war, wusste noch nicht, dass ich getroffen worden war, und ich versuchte vergeblich, aufzustehen und Joe zu helfen. Da erst spürte ich ein heftiges, stechendes Brennen. Ich sah nach unten und entdeckte große rote Flecken an meinem Unterleib. Die Welt schob sich um mich herum zusammen, und ich verlor das Bewusstsein.
Wie wir es zurück zum Stützpunkt schafften, weiß ich nicht, ich kann nur sagen, dass Bud Ramsey ein Wunder vollbrachte. Später, im Krankenhaus, erfuhr ich, dass die Kameraden nach unserer Landung Fotos von der Maschine gemacht hatten, vollkommen fassungslos, dass sie noch flugtüchtig gewesen war. Ich jedoch sah sie mir nie an, nicht einmal, nachdem ich wieder zu Kräften gekommen war.
Es war fast ein Wunder, dass ich überlebte. Als wir England erreichten, hatte ich furchtbar viel Blut verloren und war so bleich wie ein Schwan. Mein Puls war so schwach, dass sie ihn am Handgelenk nicht fanden, trotzdem wurde ich sofort operiert. Man rechnete nicht damit, dass ich die Nacht überstehen würde. Ein Telegramm ging an meine Eltern, in dem stand, ich sei verwundet worden und weitere Informationen würden folgen. Mit »weitere Informationen« meinte die Luftwaffe ein zweites Telegramm, das sie über meinen Tod unterrichtete.
Doch das zweite Telegramm wurde nie geschickt, weil ich nicht starb. Das war keine bewusste Entscheidung eines Helden; ich war kein Held und blieb weiterhin bewusstlos. Später sollte ich mich an keinen einzigen Traum erinnern oder auch nur daran, ob ich überhaupt geträumt hatte. Doch am fünften Tag wachte ich auf, von Kopf bis Fuß schweißgebadet. Laut den Krankenschwestern war ich im Delirium und schrie vor Schmerz. Eine Bauchfellentzündung hatte sich eingestellt, und noch einmal wurde ich hastig in den OP geschoben. Auch daran oder an die folgenden Tage habe ich keine Erinnerung. Das Fieber hielt dreizehn Tage lang an, und der Arzt, nach meinen Aussichten befragt, schüttelte nur den Kopf. Von mir unbemerkt bekam ich Besuch von Bud Ramsey und anderen überlebenden Besatzungsmitgliedern, bevor sie einem anderen Flugzeug zugeteilt wurden. Unterdessen erhielten Joe Torreys Eltern ein Telegramm, durch das sie von seinem Tod erfuhren. Die Royal Air Force bombardierte Kassel, und der Krieg ging weiter.
Das Fieber sank schließlich Anfang November. Als ich die Augen aufschlug, wusste ich nicht, wo ich war. Ich konnte mich an nichts erinnern, und anfangs konnte ich mich nicht bewegen. Es fühlte sich an, als sei ich lebendig begraben, und mit aller Kraft vermochte ich nur eine einzige Silbe zu flüstern.
Ruth .
D ie Sonne wird heller, und der Wind pfeift schärfer, aber es kommt immer noch niemand. Die Panik, die ich vorhin verspürt habe, hat endlich nachgelassen, und nun schweifen meine Gedanken ab. Mir fällt ein, dass es nichts besonders Ungewöhnliches ist, bei Schneefall in einem Auto eingesperrt zu sein. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich auf dem Wettersender einen Beitrag über einen Mann in Schweden gesehen, der wie ich in seinem Auto festsaß, während der Schnee ihn nach und nach lebendig begrub. Das war in der Nähe einer Stadt namens Umeå, unweit des nördlichen Polarkreises, wo die Temperaturen
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