Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
zu dem Zeitpunkt bei fast zwanzig Grad unter null lagen. Dem Kommentar zufolge wurde das Auto zu einer Art Iglu. Den Elementen ausgesetzt hätte der Mann natürlich nicht lange überlebt, doch im Wagen war die Temperatur über längere Zeit hinweg auszuhalten, besonders da der Mann angemessen gekleidet war und einen Schlafsack bei sich hatte. Aber das ist nicht das Erstaunlichste daran. Das wirklich Verblüffende ist, wie lange der Mann überlebt hat. Obwohl er weder Nahrung noch Wasser hatte und nur Schnee aß. Die Ärzte sagten, er sei wohl in etwas Ähnli ches wie einen Winterschlaf gefallen. Seine Körperfunktio nen reduzierten sich so stark, dass er nach vierundsechzig Tagen gerettet werden konnte.
Du lieber Himmel, dachte ich mir damals. Vierundsech zig Tage. Ich konnte mir so etwas gar nicht vorstellen, aber inzwischen hat das Ganze natürlich eine neue Bedeutung angenommen. Für mich würden zwei Monate im Auto heißen, dass mich Anfang April jemand fände. Die Azaleen würden blühen, der Schnee wäre längst geschmolzen, und die Tage würden sich bereits sommerlich anfühlen. Wenn ich im April gerettet wurde, dann wahrscheinlich von jungen Leuten in kurzen Wanderhosen und mit Sonnenhüten.
So lange wird es nicht dauern, bis mich jemand findet, da bin ich ganz sicher. Obwohl mir das eigentlich Mut machen sollte, klappt es nicht. Es tröstet mich auch nicht, dass es nicht annähernd so kalt ist oder dass ich ein Sandwich im Wagen habe, weil ich nicht dieser Schwede bin. Er war vierundvierzig und unverletzt, ich habe den Arm und das Schlüsselbein gebrochen, eine Menge Blut verloren und bin einundneunzig Jahre alt. Ich habe Angst, dass jegliche größere Bewegung mir das Bewusstsein rauben würde, und offen gestanden befindet sich mein Körper bereits seit zehn Jahren im Winterschlaf. Wenn sich meine Körperfunktionen noch weiter reduzieren, bleibe ich dauerhaft in der Horizontalen.
Der einzige Lichtblick ist, dass ich noch keinen Hunger verspüre. Das ist häufig so bei Menschen meines Alters. In den letzten Jahren hatte ich nie viel Appetit, es bereitet mir schon Mühe, morgens eine Tasse Kaffee und ein Stück Toast zu mir zu nehmen. Aber Durst habe ich. Meine Kehle fühlt sich an, als sei sie mit Nägeln aufgekratzt worden, und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll. Es ist zwar eine Wasserflasche im Auto, aber ich habe Angst vor den Qualen, die ich leiden werde, wenn ich sie suche.
Und mir ist kalt, so kalt. Einen solchen Schüttelfrost habe ich seit meinem Krankenhausaufenthalt damals nicht mehr erlebt. Nach den Operationen und nachdem das Fieber gesunken war und ich dachte, ich würde langsam genesen, setzte ein heftiger Kopfschmerz ein, und das Fieber kehrte zurück. Ich spürte einen pochenden Schmerz an einer Stelle, an der kein Mann so etwas spüren möchte. An fangs hatten die Ärzte die Hoffnung, dieses zweite Fieber hinge mit dem ersten zusammen. Das stimmte aber nicht. Der Mann neben mir zeigte die gleichen Symptome, und innerhalb weniger Tage erkrankten drei weitere auf unserer Station. Es war Mumps, eine Kinderkrankheit, die bei Erwachsenen viel ernster verläuft. Von allen Patienten traf es mich am schlimmsten. Ich war der Schwächste, und das Virus wütete fast drei Wochen lang in meinem Körper. Als es sich schließlich ausgetobt hatte, wog ich nur noch knapp über fünfzig Kilo und war so geschwächt, dass ich nicht ohne Hilfe stehen konnte.
Es dauerte einen weiteren Monat, bis ich endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, allerdings durfte ich noch nicht fliegen, da mein Gewicht nach wie vor zu niedrig war. Außerdem wusste man nicht, welcher Besatzung man mich zuteilen sollte. Bud Ramsey, erfuhr ich, war über Deutschland abgeschossen worden, und es gab keine Überlebenden. Deshalb wusste die Luftwaffe zuerst nicht, was sie mit mir anfangen sollte. Letzten Endes wurde beschlossen, mich zurück nach Santa Ana zu schicken. Ich wurde Ausbilder für neue Rekruten und arbeitete dort, bis der Krieg endlich vorbei war. Meine Entlassungspapiere bekam ich im Januar 1 9 46, und nachdem ich mit dem Zug nach Chicago gefahren war, um Joe Torreys Familie mein Beileid auszusprechen, kehrte ich nach North Carolina zurück.
Wie Veteranen überall auf der Welt wollte ich den Krieg hinter mir lassen. Aber ich konnte es nicht. Ich war zornig und verbittert, und ich verabscheute den Mann, zu dem ich geworden war. Abgesehen von der Nacht über Schweinfurt hatte ich nur wenige Kampferinnerungen. Den
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