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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Rathgeb
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nichts mehr die dörfliche Herkunft verriet.
    Die Mutter hatte Angst vor der Reise nach Südamerika, sie weinte, weil sie die Heimat nicht verlassen mochte, und die Tränen, die sie beim Abschied zu vergießen begann, versiegten erst, als sie weit draußen auf dem Meer war und kein Land mehr sah und das Gefühl der Verlorenheit überhandnahm. Sie hing an den Eltern und den Geschwistern, an dem Haus, in dem sie sich geborgen gewusst hatte, an dem Dorf, in dem alle sich kannten und einander halfen, an dem sommerlichen Geruch der Felder, an dem bis in alle Winkel hinein vertrauten Himmel, an den hellen Lauten des Landlebens und an dem Dialekt, der die kleine Welt zusammenhielt und formte. Lange Zeit weigerte sie sich, wenigstens die Grundelemente der neuen, fremden Sprache zu lernen, und als sie endlich nachgab, achtete sie darauf, dass diese Sprache, die ihr unheimlich blieb und wie ein Kloß in ihrer Kehle steckte, zuhause nicht gesprochen wurde. In der Familie sollte nur Deutsch gesprochen werden, die Familie war ihre Heimat im Exil, ihre Zuflucht, ihre Höhle. Sie schlug die Augenlider nieder vor den Gesichtern der dunkelhäutigen Frauen, die ihr im Haushalt halfen, sie ging den Frauen aus dem Weg und gab ihnen nur knappe herrisch wirkende Anweisungen. Sie mochte keine Fremden in dem großen Haus um sich haben, und sei es nur für wenige Stunden in der Woche, und ertrug die Anwesenheit der Einheimischen nur mit Widerwillen. Kaum waren ihre Töchter groß genug, um im Haushalt mitzuhelfen, warf sie die armen einheimischen Frauen hinaus.
    Der Vater hätte bei der Abfahrt des Schiffes den Kopf nicht zurückwenden können, so fest hing sein Blick an dem, was auf ihn zukam. Er war nicht neugierig auf das fremde Land, das weit von der Heimat entfernt lag, sondern nur ehrgeizig. Da er in die Fremde ziehen musste, wollte er sich dort wenigstens einen guten Platz erobern. Er sah nach vorne, ein Mann, der energisch und rücksichtslos genug war, sich in seinem Tatendrang von der Wehmut seiner Frau nicht aufhalten zu lassen.
    Die Reise über das Meer trennte die Eltern, rückte sie noch auf der Überfahrt in Positionen, die sie ihr Leben lang beibehalten sollten, die Mutter am Heck, der Vater am Bug des Schiffes, angezogen von den Gestaden zweier Kontinente.
    »Er war ein Tyrann«, sagte Ruth.
    Er schlug uns nicht, dachte sie. Das war auch gar nicht nötig. Er musste nur zornig werden, und wir bekamen es mit der Angst zu tun.
    »Ja, das war er, ein Tyrann.«
    Ein Wort von ihm genügte, dachte Vika, und wir folgten ihm ohne Widerrede. Es gab zuhause keine Widerrede, nur Gehorsam und Schweigen. Er führte sich auf wie ein General. Ein katholischer General.
    »Er dachte ausschließlich an sich, sogar als er alt wurde«, sagte Ruth.
    Er veränderte sich nicht, dachte sie. Im Alter wurde er nicht freundlicher. Er blieb, wie er war. Unnachgiebig, unbeugsam. Er hielt sich von den Deutschen fern. Er hatte Charakter.
    »Wir waren ihm egal«, sagte Vika. »In gewissem Sinne waren wir ihm egal. Wir waren seine Töchter, und wir mussten uns wie brave Töchter benehmen. Uns gegenüber schien er sich zu nichts verpflichtet zu fühlen.«
    »Ich versorge euch, sagte er.«
    »Aber mehr tat er nicht«, sagte Vika. »Wir hatten Pflichten den Eltern gegenüber.«
    Lebenslange Pflichten, dachte sie. Als wären wir einzig und allein wegen der Eltern auf der Welt. Als würden wir nur für sie leben. Wir waren ihre Schatten. Wir sollten sie nicht verlassen, wir konnten sie nicht verlassen. Wir gingen nach New York, aber wir gingen auch wieder zu den Eltern zurück. Das Blut war stärker als der Wille.
    »Er nahm auf keinen Menschen Rücksicht, wenn er ein Ziel erreichen wollte«, sagte Ruth.
    Brücken bauen, dachte sie. Wir sahen keine einzige seiner Brücken, die er im ganzen Land baute. Er war ein großer Heimlichtuer. Er ließ sich von uns nicht in die Karten schauen. Wir mussten an die Tür seines Arbeitszimmers klopfen und warten, bis er Herein rief, bevor wir eintreten durften. Unerlaubt traute sich keiner, in sein Zimmer zu gehen. Was wissen wir von ihm. Was wissen wir von unserer Mutter. Kein freundliches Wort. Stattdessen Ermahnungen und Vorwürfe. Deutsche Burgen und deutsche Wappen.
    »Weder auf unsere Mutter noch auf uns nahm er jemals Rücksicht«, sagte Vika.
    Er lebte, als wäre er alleine auf der Welt, dachte sie. Als existierten wir nicht.
    Sie schwiegen.
    Der Vater, dachten sie, unterwarf sich die Mutter. Zuerst die Mutter, dann uns.

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