Kein Paar wie wir
ihren Wohnsitz in New York hatten. Ihre Eltern gehörten zu den Wohlhabenden, Erfolgreichen, die keinen Kontakt zu der armen Bevölkerung suchten. Der Vater mischte sich in die, wie er sagte, inneren Angelegenheiten des Landes nicht ein, sie waren nur eine, wenn auch wichtige Bedingung für die Geschäfte, die er machte, boten aber keinen Anlass, sich in der Politik zu engagieren.
In den Jahren der Militärdiktatur lagen mehrere Folterzentren in der Stadt. Aber das Leben der anderen, der Namenlosen, der Oppositionellen und Opfer war für die Schwestern in eine weite Ferne gerückt. Kein Ruf, kein Schrei drang bis zum Haus ihrer Kindheit, in dem sie sich um ihre alten Eltern kümmerten. Sie fühlten sich in Buenos Aires wie Gäste, die sich aus einem Ehestreit, der sie nichts anging, heraushielten und so taten, als würden sie nichts sehen und hören. Es war eine Frage des Stils sich nicht einzumischen. Die beiden Damen in reifem Alter, die sich zu dem kultivierten Teil der europäischen Oberschicht Argentiniens zählten, schwiegen und legten ihre Hände in den Schoß. Wer wollte ihnen deswegen einen Vorwurf machen, sie waren nicht die Einzigen, die das nahe Leid ertrugen und ihren Interessen, Neigungen und Geschäften wie gewohnt nachgingen. Die Unverfrorenheit der Machthaber und die Unbekümmertheit der Mitläufer und Zuschauer war so groß, dass das Endspiel der damaligen Fußballweltmeisterschaft sogar in der Nähe eines Militärgebäudes ausgetragen werden konnte, in dem zahlreiche Gegner der Diktatur inhaftiert waren.
»Morgens«, nahm Vika den Faden wieder auf, »fuhr ihn sein Chauffeur mit dem Geschäftswagen zur Arbeit, und abends brachte sein Chauffeur ihn wieder nach Hause. Er ließ sich fahren, obwohl er einen Führerschein hatte. Er wollte zeigen, dass er der Chef war. Er genoss es, der Chef zu sein.«
So weit hatte er es gebracht, dachte sie. Mit seinem eisernen Willen. Mit seiner Rücksichtslosigkeit. Er interessierte sich nur für seine Firma. Mit der Politik des Landes, in dem er lebte und arbeitete, wollte er nichts zu tun haben. Er war ein Opportunist, der sein Fähnchen in den Wind hing. Als Eva Perón starb, band er sich wochenlang eine schwarze Krawatte um den Hals, weil das von der Regierung angeordnet worden war. Er war kein Anhänger von Perón. Im Gegenteil. Perón holt die Nazis ins Land, sagte er. Ihm blieben immer nur die Engländer. Und das bei seinem schlechten Englisch.
»Mittags suchte er die besten Restaurants auf«, sagte Vika, »aber zuhause achtete er darauf, dass wir nicht im Überfluss lebten, wie er sagte. Er selbst ging auf Geschäftskosten essen, und vor uns tat er so, als sei das Leben nur Pflicht. Ich wäre ohne dich gestorben.«
Als sei das Leben nur Pflicht, dachte sie. Der Heuchler. Er dachte nur an sich, er interessierte sich nur für seine Brücken.
»Vielleicht«, sagte Ruth leise.
Und jetzt, dachte sie, ist es bald so weit, wir werden sterben. Wir tun so, als ginge das Leben weiter. Wir sitzen hier, reden und essen und warten auf das Ende. Einzig die Erinnerungen halten uns aufrecht.
»Ich war sehr schwach.«
Von Anfang an war ich sehr klein und schwächlich, dachte Vika, als hätte der Lebenswille für mich nicht mehr gereicht, als hätte ich nicht auf die Welt kommen sollen. Aber was hätte Ruth ohne mich gemacht? Und so kam ich, ein Winzling, ein Hänfling.
»Du hast kaum noch etwas gewogen.«
Ein Vögelchen, dachte Ruth, das aus dem Nest gefallen war. Ich sorgte mich um dich. Vater tat, als sei alles in Ordnung, und Mutter stand stumm da und wackelte mit dem Kopf.
»Haut und Knochen war ich«, sagte Vika.
Ein Skelett, dachte sie. Ich sprang dem Tod von der Schippe. Sie riss mich aus den Armen des Todes. Ich war viel zu schwach, um irgendetwas zu tun. Sie stellte sich dem Tod entgegen, sie hatte dazu den Willen. Ich hatte keinen Willen mehr.
»Haut und Knochen«, bestätigte Ruth.
Mutter fasste Vika nicht an, dachte sie. Als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Als wäre sie der Tod. Sie faltete die Hände. Beten, das war alles, was sie machte. Aber Beten alleine reichte nicht. Ihr müsst einen Arzt holen, rief ich so lange, bis sie ihre Apathie überwand und zum Telefon griff. Der Arzt kam in letzter Minute. Wir beide brauchen keinen Arzt. Wir sind gesund. Wir geben nicht vorzeitig auf.
Sie schenkten sich ein Lächeln.
»Mutter war mit deiner Krankheit überfordert. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Sie hätte einem leid tun
Weitere Kostenlose Bücher