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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Rathgeb
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weil sie einen starken Willen hatte und sich durchsetzen konnte.
    »Auch als du so schlimm krank warst, dachte Mutter nur an sich«, begann Ruth erneut.
    »Du hast mich gepflegt«, sagte Vika und schaute ihre Schwester mit tiefer Dankbarkeit an.
    »Ich habe dich gepflegt. Mutter stand nur stumm da und wackelte mit dem Kopf, als verstünde sie nicht, dass du krank warst.«
    »Ohne dich wäre ich gestorben«, sagte Vika.
    Sterben müssen wir allein, auch wenn wir zusammen sterben wollen, dachte sie.
    »Tage und Nächte verbrachte ich an deinem Bett.«
    Ich versuchte, den Tod zu verscheuchen, dachte Ruth. Wenn man alt ist, lässt der Tod sich nicht verscheuchen. Er kommt, und man kann nichts dagegen tun. Er ist zu uns unterwegs. Wir wissen nicht, wann er vor uns stehen wird. Jederzeit kann er vor uns auftauchen. Heute nicht, warum gerade heute, uns geht es gut, aber bald. Morgen auch nicht. So rasch wird er nicht kommen. Wir sind doch gesund, wir halten noch durch.
    »Die Eltern verließen sich auf dich. Bei dir war ich in guten Händen.«
    »Mutter«, sagte Ruth, »war depressiv. Sie war den ganzen Tag mit ihren Depressionen beschäftigt. Und mit ihren Stickereien. In jedem ihrer vielen Wappen steckt ihre Schwermut. Sie müssten alle schwarz sein.«
    Wenn wir ein solches Leben geführt hätten wie sie, wären auch wir depressiv geworden, dachten sie. Aber wir ließen uns nicht vor den Karren der Männer spannen, wir machten nicht den Fehler, den Mutter machte, wir heirateten nicht und setzten keine Kinder in die Welt, um dann die Kinder mit unseren Depressionen zu tyrannisieren. Sie lähmte uns. Ein Gift ging von ihr aus, ein schleichendes Gift, das sich in unsere Herzen eingefressen hätte, wenn wir nicht davor auf der Hut gewesen wären, wenn wir uns nicht gewehrt hätten. Sie lebte in einem Kältestrom, in dem alles versank, was Leben und Wärme hatte. Wir konnten uns gegenseitig retten, eine zog die andere aus dem Loch heraus, und dann hielten wir uns an den Händen fest, damit wir nicht wieder hineinstürzten. Mutter wäre beinahe unser Grab geworden.
    »Vater kannte nur seine Arbeit«, sagte Vika. »Er dachte an nichts anderes, er verschwand morgens im Büro und kam erst abends wieder nach Hause.«
    »Er trat in dein Zimmer und sagte, er könne sich nicht um ein krankes Kind kümmern, er müsse sich von der Arbeit ausruhen. Er baue schließlich Brücken.«
    »Er baue schließlich Brücken, das sagte er.«
    »Er setzte sich nach dem Abendbrot in sein Arbeitszimmer und las«, sagte Ruth. »Für keinen war er zu sprechen. Wir sahen ihn beim Abendbrot. Und bevor wir ins Bett gingen, klopften wir an seine Tür und wünschten ihm eine gute Nacht.«
    Er tat so, als wäre zuhause alles in Ordnung, als läge dort nicht eine seiner Töchter sterbenskrank im Bett, dachte sie.
    Sie starrten auf die weiße Tischdecke, überwältigt und niedergeschlagen von den Erinnerungen. Statt zu schrumpfen, wuchs der Schatten der Ereignisse mit den Jahrzehnten und warf sich wie ein schweres Tuch über sie, unter dem sie sich kaum bewegen konnten und das ihnen die Sicht nahm. Sie konnten den Erinnerungen nicht entkommen. Nur der Tod würde sie davon erlösen.
    Jeden Tag füllten sich die langen Stunden, die vor ihnen lagen, ohne ihren Willen mit Erinnerungen, als wären sie ein Flutbecken, das mit Wasser volllief. Die alltäglichen Handgriffe, wie die Betten zu machen, den Tisch zu decken, das Geschirr zu spülen, Staub zu wischen, schützten sie vor diesem Andrang aus der Vergangenheit nicht, sie reichten nicht aus, um die Gedanken an die Gegenstände und Ereignisse der Gegenwart zu binden. Was einst klar, fest und widerständig gewesen war und woran die Schwestern ihren Willen und ihren Verstand hatten beweisen können, ein Problem, das sie zu lösen, ein Hindernis, das sie zu überwinden, eine Aufgabe, vor der sie sich zu bewähren hatten, löste sich auf, und zurück blieb nur ein blasser Abdruck von der Welt, der ihnen eine grobe Orientierung im Hier und Jetzt erlaubte.
    Als sie in den Jahren der Militärdiktatur ihre Eltern besuchten, reisten sie in eine für sie ähnlich unwirkliche Wirklichkeit. Sie mochten nicht wahrhaben, was auf den Straßen und in den Kasernen geschah, oder zumindest nur auf eine Weise, wie man Nachrichten von einem weit entfernten Leiden zur Kenntnis nimmt. Die Empörung wurde durch die Distanz gedrosselt, das Mitleid auf ein Minimum reduziert.
    Die Schwestern waren in Argentinien Eingewanderte, Fremde, die

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