Kein Paar wie wir
Aber wir waren zu zweit, wir rebellierten, als wir alt genug geworden waren. Zwei junge Frauen. Wir ließen uns von ihm nicht alles gefallen.
»Sie war nicht besser als er«, begann Ruth erneut, »sie war auf ihre Weise auch ein Tyrann.«
Er unterwarf sie, und sie ließ es uns büßen, dachte sie. Er nahm ihr die Heimat, und sie schloss sich mit uns ein.
»Sie hat uns malträtiert.«
»Sie sperrte uns wie zwei Kanarienvögel in einen Käfig. Die braven Töchter. Fleißig und ordentlich. Hübsch und klug.«
»Ich durfte in den ersten Jahren nicht in die Schule gehen«, sagte Vika. »Sie verbot es mir.«
»Ah non.«
Ruth hatte die Geschichte vergessen, und als sie sich jetzt wieder daran erinnerte, empörte sie sich erneut.
»Ich musste bei ihr zuhause bleiben, weil sie sich allein gelassen fühlte. Du durftest in die Schule gehen, ich nicht. Ich beneidete dich. Du durftest rausgehen, ich musste drinnen bei ihr bleiben.«
»Unvorstellbar.«
Sie bewachte uns wie eine Gefängniswärterin, dachte Ruth. Wasser und Brot. Tagsüber Gebote und abends Gebete. Ein Leben auf den Knien. Aber die Eltern kriegten uns nicht klein.
»Ich wollte unbedingt die Schule besuchen, aber sie ließ mich nicht weg. Sie hielt mich bei sich fest. Ich wollte lernen, ich wollte an die frische Luft gehen, andere Kinder sehen. Du bleibst bei mir, sagte sie, du bist zu schwach für die Schule. Als wäre ich zu schwach für die Schule gewesen. Ich habe mich nach der Schule gesehnt.«
»Du solltest nur für sie da sein«, sagte Ruth. »Sie dachte nur an sich. Wie der Vater. Sie waren beide auf ihre Art unerbittlich.«
Dass wir die Eltern überhaupt so lange ausgehalten haben, dachte sie. Vater und Mutter passten gut zueinander. Es kann kein Zufall gewesen sein, dass sie zusammenkamen. Es war kein Zufall, dass gerade sie heirateten.
»Ich wollte mit anderen Kindern spielen. Ich sehnte mich danach, mit anderen Kindern zu spielen. Gut, dass du da warst. Was hätte ich ohne dich gemacht, allein zuhause mit der depressiven Mutter.«
Sie sah die Mutter vor sich, ein Stollen aus Fleisch und Stoff, dessen Kälte und Dunkelheit sie bedrohte.
»Du musstest bei ihr bleiben, weil sie einsam war«, sagte Ruth. »Du musstest ihr Gesellschaft leisten. Du warst ihre kleine Gesellschaftsdame. Nicht sie war für dich da, sondern du solltest für sie da sein.«
Ich war nie gerne mit Mutter zusammen, dachte sie. Ich habe ihren Geruch nicht gemocht. Sie roch wie abgestandenes Wasser.
»Sie kannte keinen einzigen Menschen«, sagte Vika, »sie hatte keine Freunde, sie war hier fremd. Sie wollte zurück nach Deutschland.«
»Sie schloss sich ein«, sagte Ruth. »So kann man nicht leben.«
Sie war nicht lebendig, dachte sie.
»Sie unterrichtete mich in Deutsch und in Rechnen …«
»… statt dich in eine Schule gehen zu lassen.«
Wie eine Tote saß sie in ihrem Sessel, dachte Ruth, eine Tote, die die Lebenden allein durch ihre Anwesenheit tyrannisierte. Nur wenn wir in unser Zimmer gingen und die Tür hinter uns zumachten, konnten wir aufatmen.
»Sie dachte nur an sich«, sagte Vika. »Sie litt, aber sie dachte nur an sich. Sie dachte nur an ihr Leiden. Damit tyrannisierte sie uns.«
Sie schwiegen.
Von Hitler wollte sie nichts wissen, und auch von den Juden wollte sie nichts wissen, dachte Vika. Nichts von Perón und Evita, nichts von der Militärdiktatur. Sie lebte nur für sich. Sie interessierte sich für nichts anderes. Sie war krank. Man muss doch wissen, was um einen herum passiert. Wir saßen vor dem Radio, wenn die Evita redete, aber Mutter stand sofort auf und ging in die Küche. Wir haben die Evita gesehen, sie war schön, man musste die Evita doch einmal gesehen haben.
»Die Evita«, sagte Vika leise.
»Wer?«
»Evita Perón«, sagte sie etwas lauter.
»Ah, die Evita. Wie kommst du auf sie?«, fragte Ruth.
»Mutter interessierte sich für nichts. Nicht einmal für die Evita, obwohl man sich doch gerade hier für die Evita hat interessieren müssen.«
»Für eine Frau, die es so weit nach oben geschafft hatte. Sie sah blendend aus. Aber er war ein ekelhafter Kerl.«
»Ein schauderhafter Kerl«, bestätigte Vika.
»Ein Angeber.«
»Sie ist früh gestorben. Mit dreiunddreißig.«
»So jung.«
»An Krebs. Immer noch werden Blumen auf ihr Grab in Recoleta gelegt.«
»Das Volk mochte sie, es verehrte sie.«
Sie schwiegen.
Sie waren keine Peronisten gewesen, aber die Evita hatten sie gemocht, weil sie den Mund aufmachte und redete,
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