Kein Paar wie wir
können.«
»Sie war von allem überfordert.«
Sie ließ sich gehen, dachten sie. Sie verlangte sich nichts ab. Keine Kraft. Kein Wille. Sie ging auseinander wie ein Hefeteig. Sie gab sich keine Form.
»Völlig hilflos war sie«, sagte Ruth.
Sie fand sich damit ab, dachten sie. Mutter hing in sich selbst fest, wie ein Schrank, der sich nicht verrücken lässt, wie ein Schloss, das klemmt.
»Du hast mich gesund gepflegt.«
Mutter kümmerte sich nicht um mich, dachte Vika. In ihrer Hilflosigkeit hätte sie mich sterben lassen.
»Du standest auf des Messers Schneide.«
Ich betete für dich, dachte Ruth. Ich verabreichte dir die Medikamente, flößte dir Wasser ein, kühlte deine Stirn. Ich hielt bei dir aus, Tag und Nacht.
»Mehrere Wochen vergingen, bis ich wieder gesund war. Und nur ein einziges Mal kam er in mein Zimmer und stellte sich an mein Bett.«
»Er ließ sich von mir berichten, wie es dir ging. Beim Frühstück und beim Abendbrot. Er setzte eine ernste Miene auf und sagte, dein Schicksal läge in Gottes Hand, und ließ sich ins Büro fahren. Unvorstellbar.«
»Ein Egoist.«
»Ein Tyrann.«
»Lass uns von etwas anderem reden. Es verdirbt einem den Appetit.«
9
Das Haus stand an einer mehrspurigen Straße . Von dem Verkehrslärm war in dem Appartement nichts zu hören. Zwei Fenster gingen auf einen Innenhof, in dem die Stille zwischen den Bäumen wie Sand lag. Aus den Fenstern der Küche und des Arbeitszimmers sah man in einen Lichtschacht. Die Bewohner des Hauses waren reich, die meisten alt. Manchmal traf Vika mit ihnen im Fahrstuhl oder in der Eingangshalle zusammen, wo die Post sortiert auf einem Tisch lag, und ein Wort ergab das andere. Die Millionäre ließen sich von dunkelhäutigen Frauen rund um die Uhr betreuen. Mehrmals am Tag konnte man im Viertel auf ein und dieselbe alte Dame aus dem Hochhaus treffen, die im Rollstuhl von ihren Pflegerinnen in verschiedene Cafés gefahren wurde und jedes Mal auffallend, aber immer anders gekleidet war.
»Wir werden reisen«, sagte Vika.
Wenn Ruth wieder laufen kann, werden wir reisen, dachte sie. Aber sie geht ja nicht aus dem Haus, sie weigert sich, einen Schritt vor die Tür zu setzen. Sie hat Angst und verkriecht sich in der Wohnung, dabei ging sie immer gerne spazieren. Früher sind wir kilometerweit gelaufen, abends nach der Arbeit, wenn es noch hell und warm war. Wir wollten unter Menschen sein, die Luft und die Sonne im Gesicht spüren. Wir waren gierig nach Eindrücken, nach dem Leben der anderen, nach dem Lärm und dem Wirbel, die sie auf der Suche nach ihrem Glück verursachten.
»Rio, Rom, Madrid«, sagte Ruth.
»Wie lange waren wir nicht mehr in Rom.«
»Das erste Mal war ich allein in Rom. Du konntest nicht mitfliegen, sagtest, du müsstest arbeiten. Es war das einzige Mal, dass wir nicht zusammen wegfuhren. Ich ging nicht noch einmal allein auf Reisen.«
»Du sagtest, Rom muss man gesehen haben, und da du es nicht erwarten konntest, bist du alleine dorthin geflogen. Drei Jahre später fuhren wir zusammen nach Rom. Mailand, Florenz, Rom, Venedig. Drei Wochen waren wir drüben.«
Was sie allein in Rom gesucht hat, dachte Vika. Warum musste sie ohne mich nach Rom fahren. Ich fliege nach Rom, sagte sie, obwohl sie wusste, dass ich nicht mitkommen konnte. Als hätte sie alleine sein wollen.
»Ich musste mich in Rom in meinem Hotelzimmer vor den Männern verbarrikadieren. Schon in der ersten Nacht klopften sie an die Tür und riefen, ich solle aufmachen. Sie sagten, wir könnten tanzen gehen. Sie dachten, ich würde die Tür öffnen. Sie waren außer Rand und Band. Aber ich war nicht verrückt. Ah non.«
Ich hätte mich mit ihnen nicht eingelassen, dachte sie.
»Diese Kerle.«
Sie hätte nicht alleine fahren dürfen, dachte Vika. Ich musste immer auf sie aufpassen. Sie war sehr hübsch, sie fiel sofort auf, mit ihrer Figur, mit ihrer Ausstrahlung. Kein Wunder, dass die Männer ihr nachstiegen. Sie hätte sich die Männer aussuchen können. Eine Affäre nach der anderen hätte sie beginnen können. Aber so eine war sie nicht. Dennoch flog sie allein nach Rom. Ich möchte Rom sehen, sagte sie, mehr nicht.
»Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie drückten gegen die Tür. Ich hatte Angst. Sie waren jung und übermütig. Ich schob also eine Kommode vor die Tür.«
»Du hättest um Hilfe telefonieren können.«
»Das versuchte ich doch. Aber das Telefon funktionierte nicht. Ich sagte ihnen, dass ich das Fenster öffnen und
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