Kein Paar wie wir
sei, ich käme von der Arbeit. Das gefiel ihr, dass ich sagte, ich käme von der Arbeit, denn sie fragte mich, wo und was ich arbeiten würde. Und dann fragte sie mich, ob wir uns nicht auf einen Kaffee treffen könnten.«
»Sie lud dich ein, wie eine Freundin.«
»Dabei kannte sie mich nicht«, sagte Ruth. »Wir sprachen zum ersten Mal miteinander. Aber das machte ihr nichts aus, dass sie mich nicht kannte. Sie hatte mich auf der Fifth Avenue gesehen, und ich gefiel ihr. Sie mochte mich offenbar.«
Die Schwestern schwiegen. Sie hatten den Höhepunkt der Geschichte erreicht, und was nun kommen würde, war ein Abstieg. Sie genossen die Aussicht vom Gipfel und die Weite des Horizontes und sogen die leichte reine Luft ein. Aber irgendwann verblassten die warmen Strahlen der Erinnerung, und sie mussten umkehren und zurück ins Tal.
»Aber du bist nicht hingegangen.«
»Nein, ich besuchte sie nicht. Sie lud mich zum Kaffee ein, aber ich ging nicht hin. Wir hatten keine feste Verabredung getroffen, sie hatte mich nicht zu einem bestimmten Tag eingeladen. Sie sagte nur, ich solle einmal vorbeikommen und mit ihr einen Kaffee trinken, aber ich fragte nicht nach, wann sie Zeit hätte, sondern nickte nur mit dem Kopf und sagte, ja, ich würde gerne mit ihr einen Kaffee trinken. Und dabei beließ ich es. Ich war verwirrt und aufgeregt, blieb aber höflich, zurückhaltend.«
»Die Einladung war dir unheimlich.«
»Ich konnte nicht glauben, dass sie es ernst meinte«, sagte Ruth. »Wer war ich, dass ich zur Jackie zum Kaffeetrinken gehen sollte.
Man muss seine Grenzen kennen, sonst macht man Fehler, dachte sie. Vielleicht hätte ich einfach bei ihr vorbeigehen sollen. Aber ich traute mich nicht. Das erschien mir vermessen.
»Die Einladung anzunehmen schickte sich nicht.«
»Zu ihr hinzugehen war ausgeschlossen. Sie war nicht irgendeine schöne Frau, die mich zu sich nach Hause einlud, sie war die Jackie.«
Die Queen, dachte sie.
»Ja«, sagte Vika, »sie war nicht irgendeine schöne Frau.«
Sie schwiegen, erschöpft von dem raschen Abstieg in den Alltag der Gegenwart.
»Kurz davor war ihr Mann erschossen worden«, sagte Ruth, der es schwerfiel, sich von der Geschichte mit der Jackie O. zu verabschieden.
»In Dallas«, sagte Vika.
Sie saßen auf dem Sofa wie auf einer einsamen Bank am Ende der Welt. Hinter ihnen lagen die Ereignisse, die sie erlebt hatten, in einer Art Nebel, in dem sie täglich herumstocherten. Vor ihnen breitete sich das Wohnzimmer aus, sie sahen eine Wand mit Gemälden, dazwischen einen Durchgang, der den Blick freigab auf den Esstisch, einen schmalen Bücherschrank mit gläsernen Türen und zwei Sessel am Fenster, auf die sie sich so gut wie nie setzten. Die Dinge standen oder hingen an den Plätzen, die ihnen von den Schwestern vor Jahrzehnten zugewiesen worden waren, und schauten zu den beiden Alten herüber, als wollten sie wissen, wie lange alles beim Alten bleiben würde. Die Schwestern wussten, dass eine geraume Weile würde verstreichen müssen, bis sie sich die Geschichte mit der Jackie wieder wie neu erzählen konnten.
»Die Winter in New York waren fürchterlich«, sagte Ruth.
Ihr fiel nichts Besseres ein, keine Anekdote, die es mit der Jackie hätte aufnehmen können.
Schnee in Manhattan, dachten sie müde.
»Solche kalten Winter waren wir nicht gewohnt«, bestätigte Vika.
Wenn wir in die Anden gefahren wären, dachte sie. Aber uns trieb es nicht in die Eiseskälte hinauf. Nie sind wir in den Bergen gewandert. Immer fuhren wir in Städte oder ans Meer.
»Im Winter flüchteten wir ins Warme«, sagte Ruth.
»Jeden Winter flogen wir hierher.«
Über achttausend Kilometer in den Süden, dachten sie.
»Zu den Eltern. In die Wärme.«
Sie mussten lachen.
Meistens fuhren wir zu den Eltern, dachten sie. Selten blieben wir alle Urlaubswochen bei ihnen. Sie wären tödlich beleidigt gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass wir nicht unsere ganze freie Zeit mit ihnen verbrachten, und deswegen sagten wir ihnen nicht, wie lange unser Urlaub ging, und flogen heimlich noch woanders hin. Wir sagten ihnen, wir müssten zurück nach New York, unser Urlaub sei vorbei, wir müssten wieder arbeiten. Aber statt nach New York flogen wir für zwei, drei Wochen nach Rio oder nach San Francisco oder sonst wo hin. Es war eine Notlüge.
»Vater und Mutter gingen davon aus, dass wir jeden Winter und jeden Sommer zu ihnen kommen würden.«
Sie hielten inne, sie mochten jetzt nicht über ihre Eltern
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