Kein Paar wie wir
aufgetaucht, als wäre ihre Zeit gekommen. Die beiden Schwestern waren von den Eltern katholisch erzogen worden, sie gingen jede Woche zur Beichte. Auch wenn sie nicht sündigen wollten, hatten sie sündige Gedanken und ehrten ihre Eltern nicht immer so, wie es ihre kindliche Pflicht gewesen wäre, und zur Buße mussten sie soundso viele Vaterunser und soundso viele Ave Maria, heilige Mutter Gottes, aufsagen. Sie knieten in der Bank, die Augen geschlossen, die Hände gefaltet, die Ohren gespitzt. Sie lauschten auf jedes Geräusch, das in der Kirche widerhallte, auf das Knarren der Bänke, langsame Schritte, auf ein Husten, ein Räuspern, auf das rasch unterdrückte helle Gekicher von Kindern und das unablässige Murmeln der Alten.
Sie hatte gebetet, zu jeder Tageszeit, als Vika sterbenskrank war, sie hatte gebetet, als die Eltern im Sterben lagen und beerdigt wurden, und sie hatte gebetet, als Vika der Erde übergeben werden musste. Der Priester hatte sie beim Arm genommen und war mit ihr dem Sarg gefolgt. Am Grab hatte sie auf einem Stuhl gesessen, eine lange dunkle Zeit.
Mit einem so gebrechlichen alten Weib, dachte sie, hättest du nicht wieder auf Reisen gehen können, und dabei hatten wir tausend Pläne geschmiedet, wohin wir fliegen wollten. Die Welt stand uns offen, dachten wir. Als hätten wir noch einmal zu leben beginnen können. Wir besaßen genügend Geld, die Eltern waren tot, und wir waren gesund. Aber ich war ein Klotz an deinem Bein. Ich täusche mich nicht, ich mache mir nichts vor, ich weiß, wie es war. Ohne dich wäre ich viel früher in einem Altersheim gelandet. Ich war von uns beiden die erste, die nach New York ging, doch als ich alt wurde, fand ich mich in der Welt nicht mehr zurecht. Was hätte ich ohne dich angefangen. Keinen Schritt wollte ich nach draußen gehen. Ich lief im Wohnzimmer auf und ab, weil ich mich bewegen musste. Du hast mich lange Zeit vor dem Altersheim bewahrt, in dem ich jetzt sitze und darauf warte, dass das Leben zu Ende ist. Du wärest nie in ein Altersheim gegangen. Du warst zäh. Niemals hättest du dich in ein kahles fremdes Zimmer setzen lassen. Du warst anders als ich, du hattest Kraft und Energie, Elan. Du warst klein und zart, aber auch stark und vital, unbeugsam, aus einem harten Holz gemacht. Nachdem du als Kind gesund geworden warst, konnte keine Krankheit dich aus der Bahn werfen. Deine Gesundheit war blendend, dein Wille eisern. Wenn du dir etwas vornahmst, hast du es durchgesetzt. Undenkbar, dass du klein beigabst, unvorstellbar, dass du dich nicht getraut hättest, etwas zu tun. Nie kam uns der Gedanke, dass wir die letzten Jahre in einem Altersheim verbringen müssten. Die Eltern waren nicht in ein Altersheim gegangen, davor haben wir sie bewahrt, und wir, dachten wir, würden auch nicht in einem Altersheim enden. Ah non. Schau mich jetzt an. Wer bin ich denn noch? Eine alte Frau, die verlassen wurde vom Liebsten auf Erden, die keine Hoffnungen und keine Wünsche mehr hat, eine Trauernde, die von der Trauer erdrückt wird. Ich bin ein Stück alter nutzloser Stoff, am Boden liegen gelassen von dem Leib, der das Tuch getragen und den es gewärmt hat. Unser Leben ist vorbei. Ich habe unser Appartement verlassen, weil ich es dort keine Minute länger ohne dich aushielt. Ich konnte mich nicht alleine an den Tisch setzen, an dem wir zusammen saßen, ich konnte mich nicht alleine auf das Sofa setzen und Radio hören, ich konnte mich nicht in mein Bett legen, wenn dein Bett leer blieb. Ich sah dich überall, ich hörte dich überall, ich vermisste dich. Wenn ich in unserem Appartement geblieben wäre, dann wäre ich vor Schmerz über deinen Tod verrückt geworden. Also ging ich weg und verkroch mich in diesem Zimmer. Ich warte hier auf mein Ende. Wenn es nur bald käme. Ich möchte wieder bei dir sein.
Sie sah auf ihre Hände, die weich und untätig in ihrem Schoß lagen, wie zum Gebet gefaltet, und dann aus dem Fenster, in das Grün der Bäume und in das Blau des Himmels, schloss die Augen und ließ sich in dem Blau und Grün treiben, das von einer Welt und einem Leben kündete, an denen sie nicht mehr teilhatte. Sie hatte den Anschluss an den Tod der Schwester verpasst und saß nun verloren da wie eine Reisende auf einem abgelegenen Flughafen, auf dem sie noch Stunden würde ausharren müssen, bis ein neuer Tag anbrach und ein Flugzeug sie aus einem Land wegbringen würde, in dem sie nichts mehr zu suchen hatte. Geduldig und schläfrig, wie Gott ergeben,
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