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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Rathgeb
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gelernt, sich zu mäßigen. Überfluss lehnten sie ab, außer er ließ sich durch einen besonderen Anlass wie einen Geburtstag rechtfertigen. Wenn sie aber eine Reise planten, gaben sie das dafür nötige Geld bedenkenlos aus, auch wenn die Reise sie um die halbe Welt führte. Von jeder ihrer Reisen waren sie erfüllt zurückgekehrt. Die gesammelten Eindrücke und Erlebnisse stillten für eine Weile ihre Sehnsucht nach Leben. Ein sanfter warmer Wind fuhr ihnen in der Fremde durch die Seele und vertrieb die Erinnerungen, und die Leichtigkeit, die sie dadurch gewannen, machte sie glücklich.

12
    Die wenigen materiellen Andenken an die Eltern und ihre Kindheit, die sie besaßen, verwahrten sie in einer Schuhschachtel, darunter waren Fotografien, Briefe und ein Tagebuch des Vaters, das ihnen die Augen geöffnet hatte. Der Vater sei, sagten sie, lange genug tot, um keine Geheimnisse mehr vor ihnen haben zu müssen, und sie begannen, das Tagebuch zu lesen. Die Schrift war schwer zu entziffern, aber die Mühe lohnte sich.
    Der Vater hatte die Mutter jahrelang betrogen, er fand mit jungen Frauen jenes sexuelle Vergnügen, das er bei seiner depressiven Ehefrau gar nicht mehr suchte. Seine Töchter taten zuerst voreinander so, als wären sie darüber nicht überrascht und empört, und schauten einander mit einem abgeklärten Blick an, als reichte es ihnen zu wissen, was eine Hure, eine junge Geliebte und eine alte Ehefrau war, um sich keine Illusionen über die Liebe und die Treue der Männer zu machen.
    »Vater sagte, Kinder seien nur für die Eltern da«, sagte Vika.
    Er sagte, meine Töchter, und betonte dabei das besitzanzeigende Fürwort, dachte sie. Es ging ihm nur um seine Töchter, nicht um uns. Was wir wollten, zwei Mädchen, zwei junge Frauen, das war ihm egal.
    »Sie sollen sich um die Eltern kümmern und sie pflegen«, ergänzte Ruth.
    Das Schicksal der Kinder sind ihre Eltern, dachte sie. Die Kinder sind an ihre Eltern gekettet, sie kommen nicht von ihnen los. Die Eltern tun so, als wünschten sie ihren Kindern das Beste, und hängen sich wie Steine an sie.
    »Von den Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern sprach er immer wieder, damit uns sein Gebot in Fleisch und Blut überging, damit wir uns auch später daran erinnerten. Und wir merkten uns, was er von uns erwartete. Das ist ja das Verrückte. Wir vergaßen unsere Kinderpflichten nicht, und als es so weit war, gingen wir zu den Eltern zurück.«
    »Dabei hat er sich um seine Eltern überhaupt nicht gekümmert«, sagte Ruth.
    Nicht einmal als sie starben, war er bei ihnen, dachte sie, nicht einmal zu ihrer Beerdigung ist er nach Deutschland gefahren. Dabei starben sie nach dem Krieg. Er hätte also hinfahren können. Die Nazis waren besiegt. Er hatte das nötige Geld.
    »Seinen frühen endgültigen Abschied von den Eltern hatte er gut eingefädelt«, sagte Vika, »er war weit genug von ihnen weggegangen, er hatte den Atlantik zwischen sich und die Eltern geschoben.«
    Eine bessere Entschuldigung, um sie nie mehr zu besuchen, konnte er sich nicht zurechtlegen, dachte sie. Ihr seid zu weit weg, sagte er zu seinen alten Eltern und beruhigte mit dieser scheinheiligen Ausflucht sein Gewissen.
    »Er ging von Zuhause weg, obwohl er der einzige Sohn war«, sagte Ruth. »Er machte nur, was ihm gefiel und zu seinem Vorteil war, und dachte kein einziges Mal an seine Eltern.«
    »Uns sagte er, dass er wegen der Nazis aus Deutschland weggegangen sei«, sagte Vika. »Aber er ging nicht in die Schweiz oder nach Skandinavien, von wo er einfacher hätte zurückkehren können, sondern er ging ganz weit weg.«
    »Er log uns an, der Heuchler.«
    »Er floh vor seinen Eltern«, sagte Vika. »Das ist die ganze Wahrheit. Und wir glaubten ihm, wir nahmen ihm seine Geschichte vom guten Sohn ab, der wegen der Nazis das Land verließ. Wir waren dumm.«
    »Wir beide aber sollten für immer bei ihm und bei Mutter bleiben«, sagte Ruth. »Bis zu ihrem Tod. So stellte er sich unser Leben vor. Er war ein heilloser Egoist.«
    »Wir sollten nur für die Eltern da sein. Als hätten wir kein Recht auf ein eigenes Leben. Wir sollten uns für sie aufopfern. Als wären wir keine eigenständigen Menschen. Nur Töchter.«
    »Lächerlich«, sagte Ruth und winkte mit der Hand ab.
    »Absurd.«
    »Völlig absurd.«
    Eine düstere Leere breitete sich in ihnen aus. Sie wussten wenig von ihren Eltern, die ihren beiden Töchtern nichts über sich preisgegeben hatten. Nie hatte es ein offenes Gespräch

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