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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Rathgeb
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zwischen den Eltern und den Kindern gegeben. Jahrzehnte hatten die Schwestern an der Seite von Menschen verbracht, die sie kaum kannten. Auch sie hatten sich den Eltern nicht anvertraut, sie konnten das Glück preisen, dass sie einander alle Sorgen und Freuden erzählen konnten, dass sie in einem Haus lebten, das groß genug war, um den Eltern aus dem Wege zu gehen.
    »Dann bist du weggegangen«, sagte Vika.
    Sie ging zuerst, sie war die ältere, sie hatte den Mut dazu, dachte sie. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, nach New York zu gehen. New York war genau die richtige Wahl. Weit genug weg und doch derselbe Kontinent. Wir schoben nicht den Atlantik zwischen uns und die Eltern, oder den Pazifischen Ozean. Wir gingen nicht nach Sydney oder nach Tokio. Was hätten wir dort verloren gehabt. Einmal waren wir in Sydney, einmal waren wir in Tokio. Das reichte uns.
    »Ich wollte mein eigenes Leben führen«, sagte Ruth. » Ich bekam Angst, dass das Leben an mir vorbeiziehen, dass es mich vergessen würde, dass ich zuhause lebendig begraben sei. Ich wollte nicht wie eine Tote leben, ich wollte nicht so enden wie sie. Ich fühlte mich wie eine Gefangene, die sich nach der Freiheit sehnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu fliehen, als einen Plan auszuhecken, wie ich schnell wegkommen könnte. In mir war ein Drang, der mächtiger war als die Eltern und meine Pflicht ihnen gegenüber. Nur du hättest mich aufhalten können. Aber ich wusste, du würdest nachkommen. Ich floh nach New York für uns beide.«
    Wenn ich bei den Eltern geblieben wäre, hätte ich mich umgebracht, dachte sie. Ich spürte zuhause jeden Tag, wie ich erstarb. Ich wollte nicht langsam sterben. Lieber hätte ich einen Strick genommen und mich aufgehängt als dahinzusiechen. Ich brannte vor Sehnsucht nach Leben, und wir lebten hinter den Mauern der Mutter. New York war weit genug weg von zuhause. Es hätte nichts genützt, sich in einem anderen Viertel der Stadt eine Wohnung zu nehmen. Ich musste das Land verlassen, wenn ich den Eltern entkommen wollte. Die Grenze überschreiten. Ein Wagnis eingehen. Die Brücken abreißen. Wäre ich in ihrer Nähe geblieben, hätten sie mir nachgestellt und mich belagert, bis ich kapituliert hätte und zu ihnen zurückgekrochen wäre. Sie hätten mich weichbekommen und zurückgeholt. New York war die Rettung. Meine Rettung. Unsere Rettung.
    Sie schaute Vika an und lächelte wie eine Verschwörerin.
    »Ich kam nach«, sagte Vika. » Kaum hatte ich die Prüfungen bestanden, flog ich zu dir nach New York. Der gepackte Koffer lag Tage vorher unter meinem Bett bereit. Ich hatte mir das Ticket längst gekauft. Ich musste mir nur ein Taxi bestellen. Jeder Schritt war geplant, nichts konnte schiefgehen. Sie wagten nicht, mir zu widersprechen, als ich ihnen meine Absicht mitteilte, zu dir nach New York zu gehen, sie wagten nicht, sich mir in den Weg zu stellen. Sie ließen mich ziehen. Sie waren sich sicher, dass ich wiederkommen würde, dass wir beide wiederkommen würden, wenn sie uns riefen.«
    Allein hielt ich es bei den Eltern kaum aus, dachte sie. Kaum warst du weg, schrumpfte ich unter ihren Vorwürfen und unter ihrem Schweigen. Ich verkroch mich in meinem Zimmer und wartete auf den Tag, an dem ich weggehen würde. Zwei Jahre ohne ein Lachen, ohne ein freundliches Wort. Nur die rücksichtslose Kälte des Vaters, nur das eisige Selbstmitleid der Mutter. Ich zählte die Monate, die Wochen, die Stunden. Ich konnte es kaum erwarten, zu dir nach New York zu fliegen.
    »Ich rief dich an und sagte, dass du kommen könntest.«
    »Vater sprach kein Wort mit mir«, sagte Vika, »nachdem ich ihm eröffnet hatte, dass ich zu dir nach New York gehen würde. Mutter war tödlich beleidigt.«
    Sie hoffte, dass ich bei ihr bliebe, dass wenigstens ich eine gute Tochter sei, dachte sie. Aber die gute, die vernünftige Tochter wollte nicht brav sein. Die gute und vernünftige Tochter ließ sich nicht zurückhalten. Ruth und ich, wir haben es geschafft.
    »Ich lieh mir bei Freunden Geld«, sagte Ruth, »ging zu Vater und sagte ihm: › Ich gehe weg, ich gehe nach New York. ‹ «
    »Nach New York, wie das klang. Wie dieser Name in seinen Ohren geklungen haben muss.«
    »Er sagte nur: ›Du kommst zurück, du kannst nichts, du hast nichts gelernt.‹«
    »Ach.«
    Vikas Hand fuhr wie ein scharfes Messer durch die Luft.
    »Das sagte er.«
    So etwas sagt kein Vater zu seiner Tochter, dachte Ruth. Was er sagte, war eine bodenlose

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