Kein Paar wie wir
selbstverständlich. Das ist nicht zu viel verlangt.«
»Wir wollten raus, unter Menschen sein, und nicht bei der Mutter im Schatten sitzen.«
»Aber das verstand sie nicht.«
»Sie wollte uns nicht verstehen«, sagte Vika. »Sie stellte sich taub.«
Sie war böse, dachte sie, neidisch, missgünstig und depressiv. Sie hätte nie heiraten, nie Kinder in die Welt setzen sollen.
»Aber wir ließen uns von ihr nicht abhalten, zu tun, was wir wollten, wir gingen ins Kino und ins Theater«, sagte Ruth. »Sie konnte uns noch so böse Blick zuwerfen, wir ließen sie im Flur stehen, ließen sie in ihrem Sessel sitzen und gingen aus dem Haus.«
Wir dachten, soll sie im Flur stehen bleiben, bis sie versteinert ist, soll sie im Sessel sitzen bleiben, bis sie versauert ist, dachte sie.
»Wir ließen uns von Mutter nicht mehr einsperren, wir waren über einundzwanzig«, sagte Vika.
»Sie konnte uns nicht zwingen, zuhause zu bleiben«, sagte Ruth. »Wie hätte sie uns dazu zwingen sollen.«
Wir waren keine kleinen Kinder, dachte sie, wir waren junge Frauen. Wir hatten keine Liebschaften. War ihr das nicht genug? Fünfundzwanzig und noch keinen Mann. Dreißig und noch keinen Mann. In New York ging ich zum ersten Mal mit einem Mann ins Bett. Was hätte sie mehr von mir verlangen können. In dem Alter, in dem ich damals war, hatten andere Frauen schon zwei Kinder in die Welt gesetzt, und sie selbst war noch keine dreißig gewesen, da war sie schon Mutter zweier Töchter. Oder sind wir vom Himmel gefallen? Aber wir durften nicht ausgehen.
»Sie hätte die Haustür abschließen müssen«, sagte Vika.
Wenn sie die Tür abgeschlossen hätte, wären wir aus dem Fenster geklettert, dachte sie.
»Lächerlich, absurd.«
Ruth winkte ab.
»Sie war uns böse, weil wir ausgingen und Freude hatten«, sagte Vika müde.
»Kalt wie ein Grab war sie.«
»Den ganzen Tag saß sie im Sessel und stickte. Ein deutsches Wappen nach dem anderen. Sie stickte wie besessen.«
Aber sie erhängte sich nicht, dachten sie. Sie hielt durch und wurde alt. So schlimm kann also das Leid nicht gewesen sein. Am Ende sind wir zu den Eltern zurückgegangen, und da hatten wir das Gefühl, als wären wir gar nicht weg gewesen. Als wären wir nur für ganz kurze Zeit nicht bei ihnen zuhause gewesen. Kaum waren wir wieder bei ihnen in Buenos Aires, wurde zwischen uns und ihnen alles genau so wie früher. Als wäre New York nur der Traum einer Nacht gewesen, aus dem wir jetzt erwachten. Als existierten nur sie, unser Vater, unsere Mutter, und niemand anderes auf der Welt.
Sie schüttelten resigniert die Köpfe. Sich darüber aufzuregen war sinnlos. Aber kaum erinnerten sie sich an jene Zeit, regten sie sich automatisch wieder auf. Dass sie an ihre Eltern dachten, war nicht zu vermeiden. Die Erinnerungen führten ein eigenes Leben, sie kamen, ohne gerufen zu werden, und trieben ihr Spiel mit den Schwestern.
»Sie lebte wie ein Eremit, sie ging nicht unter Menschen«, sagte Ruth. »Sie hatte keine Freunde. Der Vater hatte seine Geliebten, sie hatte ihre Wappen. Sie stickte sich ihr geliebtes verlorenes Deutschland zusammen.«
Vielleicht war sie verrückt gewesen, dachten sie. Welche Frau wäre nicht verrückt geworden, wenn sie wie Mutter gelebt hätte. Vater ließ sie links liegen, er tat so, als sei mit ihr alles in Ordnung. Solange sie nicht schrie, solange sie mit ihrer Deutschlandliebe nicht auf die Straße rannte, nahm er hin, dass sie so war, wie sie war. Er sah sie selten genug. Früh ging er aus dem Haus und spät kam er zurück, und nach dem Abendbrot verschwand er sofort in seinem Arbeitszimmer. Anders hätte er das Leben mit ihr nicht ausgehalten.
»Sie wollte allein bleiben und keinen Fremden sehen«, sagte Vika.
»Zuhause und allein. Mit den Deutschen mochten die Eltern nichts zu schaffen haben. Nur wenn es notwendig war, nur wenn es die Arbeit gebot, kamen sie mit Deutschen zusammen, taten sie so, als hätten sie keine Vorbehalte gegenüber den Deutschen, als vermuteten sie nicht in jedem Deutschen erst einmal einen Nazi.«
»War ein Mann groß und blond, hieß es, das kann nur ein Nazi sein«, sagte Vika.
»Hatte er eine Narbe im Gesicht, hieß es, das kann nur ein Nazi sein«, sagte Ruth.
»Ein kantiges Gesicht …«
» … eine schnarrende Stimme«
» … ein herrisches Auftreten«
»… und sofort kam der Verdacht auf, vor einem Nazi zu stehen.«
»Die Mutter hätte sich mit anderen Menschen gar nicht unterhalten können«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher