Kein Paar wie wir
Vika, »mit ihrem schlechten Spanisch, mit ihrem schlechten Englisch.«
Die Hölle, dachten sie. Für uns wäre es die Hölle gewesen, so einsam zu leben wie die Mutter, abgeschnitten von der Welt, mit sich allein gelassen.
»Und wir sollten zu ihren Füßen sitzen«, sagte Ruth.
»So stellte sie es sich vor. Wir drei, eine Gruppe in Stein gehauen.«
»Absurd«, sagte Ruth. »Grauenhaft.«
»Völlig absurd«, sagte Vika.
Mutter war krank, dachte sie. Als wir jung waren, wussten wir nicht, was sie hatte. Sie war merkwürdig schweigsam, in sich gekehrt. Die Krankheit lag in der Familie. Mutter hat krank werden müssen. Sie konnte nichts dafür. Sie war schwermütig, sie litt an Depressionen.
»Wir wollten nur schnell weg von ihr.«
Und sind wir aus ihrem Grab herausgekommen?, dachten sie. Wir sitzen hier und reden darüber. Das vergangene Leben lässt uns nicht los. Mutter lässt uns nicht los. Sie verfolgt uns. Nur wenn wir uns bewegen, wenn wir arbeiten, reisen, unter Menschen sind, können wir sie abschütteln. Nur wenn wir uns ablenken, wenn wir unterwegs sind, haben wir vor ihr Ruhe. Sobald wir uns niederlassen und nichts tun als dazusitzen und zu reden, holt sie uns ein. Wenn wir die Augen schließen, sehen wir ihr Gesicht, wenn wir uns umschauen, sehen wir Mutter aus einem Winkel auftauchen. Sie beobachtet uns, sie lässt uns nicht fortgehen. Auch wenn wir sie nicht sehen, wissen wir, dass sie uns sieht. Wir spüren ihren Blick. Sie ist nicht mehr da, sie ist nirgendwo, aber wir spüren ihren Blick, er kommt aus dem Nichts, es bedarf für diesen Blick keines Anlasses, keiner Erinnerung.
»Wir waren alt genug, um unseren eigenen Weg zu gehen«, sagte Vika. » Andere in unserem Alter …«
»Sie beobachtete uns, wenn wir nach Hause kamen, aber sie sagte nichts, wenn wir an ihr vorbei in unsere Zimmer gingen. Kein Wort kam über ihre schmalen Lippen.«
Ihre vorwurfsvollen vernichtenden Blicke genügten, dachte Ruth. Sie musste uns nichts sagen, sie musste uns nur ansehen.
»Sie glaubte«, sagte Vika, »wir würden sie nicht dort oben hinter der Gardine stehen sehen. Aber wir sahen ihren Schatten im Fenster.«
»Diese Heimlichtuerei. Sie spionierte uns hinterher.«
»Das Licht kam vom Treppenhaus«, sagte Vika. »Sie vergaß, das Licht im Treppenhaus auszuschalten.«
Sie machte das Licht mit Absicht nicht aus, dachten sie. Sie wollte, dass wir sie sahen, dass wir ein schlechtes Gewissen bekamen, wenn wir uns lachend und gutgelaunt dem Haus näherten. Sie wollte, dass wir uns das Bild der auf uns wartenden Mutter einprägten.
»Sie muss Stunden dort oben gestanden, dort oben gesessen und auf uns gewartet haben.«
Wie eine Mumie sah sie aus, dachte Ruth. Wie eine Tote.
»Wir kamen manchmal spät nach Hause. Aber nie ist uns etwas zugestoßen.«
Was sollte uns zustoßen, dachten sie. Wir passten aufeinander auf, wir waren zusammen. Keiner bekam uns alleine, nur im Doppelpack. Wie hätte uns ein Mann heiraten sollen.
»Ah non.«
»Sie sagte kein Wort, als wir das Haus betraten. Sie stand im Flur und schaute uns an. Sie überhäufte uns mit stummen Vorwürfen.«
»Sie war uns gram, und sie zeigte es uns durch ihr eisiges Schweigen, durch ihre kalten trüben Blicke.«
Ein lebendes Mahnmal unserer Schandtaten war sie, dachten sie. Ein Denkmal unseres Versagens, unserer Undankbarkeit ihr gegenüber, unseres Egoismus.
»Sie fragte uns nicht, wo wir gewesen waren und ob wir den Abend genossen hätten«, sagte Vika. »Sie benahm sich so, als wären wir für sie Luft. Schlechte Luft.«
Kein einziges, kein freundliches Wort brachte sie über ihre Lippen, dachten sie. Ihr Mund war versiegelt. Eine eiserne schmale Linie, hinter der kein Leben existierte.
»Stumm wie ein Fisch«, sagte Ruth.
Augen wie ein toter Fisch, dachten sie. Ein dicker grauer Fisch.
»Sie war beleidigt, weil wir sie allein gelassen hatten«, sagte Vika, »als wären wir nur für sie da. Als hätten wir kein Recht auf ein eigenes Leben.«
»Ihr Leben lang schwieg sie wie ein Grab.«
Sie war ein Grab, dachten sie, und sie zog, was mit ihr in Berührung kam, zu sich hinab in die Grube. Sie lag dort unten auf dem Rücken, bewegungslos, und stierte nach oben.
Sie schoben sich nur kleine Stücke in den Mund und kauten langsam, als zögerten sie das Ende der gemeinsamen Mahlzeiten hinaus, die den Tag gliederten. Sie waren dankbar, vor einem gedeckten Tisch zu sitzen, sie ließen keine Nahrungsmittel verkommen. Von den Eltern hatten sie
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