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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Rathgeb
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Wir glaubten, wir könnten uns von den Eltern befreien und ein neues Leben anfangen. Aber unsere letzte Reise führte uns wieder hierher zurück. Seitdem sind wir nicht mehr gereist. Die Eltern starben, aber wir fuhren nicht mehr weg. Als wäre uns die Luft ausgegangen, als wären wir von unserer Geschichte erschöpft. Wir reisten, solange die Eltern am Leben waren und wir sie nicht pflegen mussten. Sie trieben uns in andere Länder, in fremde Städte, in die Ferne. Kaum dachten wir daran, dass wir die Eltern in unserem Urlaub besuchen mussten, fingen wir an, unsere Reisen zu planen, kauften wir Flugtickets, um nicht bei ihnen die ganzen freien Wochen hängen zu bleiben, um sicher zu sein, dass wir von ihnen loskommen und in unser eigenes Leben zurückfinden würden. Wir hatten Angst vor der Macht, die sie über uns ausübten. Wir wollten gewappnet sein. Wir schützten uns mit Flugtickets vor ihnen. Wir können nur drei Wochen bei euch bleiben, erklärten wir ihnen, schon bevor wir zu ihnen flogen, damit sie uns nicht mit ihren Erwartungen, dass wir länger bei ihnen bleiben könnten, unter Druck setzten. Damit sie uns nicht mit ihren stummen bitteren Vorwürfen und ihren enttäuschten beleidigten Gesichtern dazu brachten, bei ihnen zu bleiben.
    »Wir waren frei«, sagte Ruth, »wir konnten tun und lassen, was wir wollten.«
    »Wir hatten Dollars im Portemonnaie.«
    Von den Dollars leben wir immer noch, dachten sie. Von unseren amerikanischen Pensionen. Und wir leben gut davon. Wir können uns nicht beschweren. Der Dollar stand immer gut, in welches Land wir auch kamen. Und wir fuhren nur dorthin, wo wir mit Dollars bezahlen konnten.
    » Wien, London, Acapulco«, sagte Ruth.
    »Acapulco.«
    »Fast ein halbes Jahrhundert ist das her.«
    Damals fühlten wir uns jung, dachten sie. Aber wir sind nie jung gewesen. Machen wir uns nichts vor. Die Eltern stahlen uns unsere Jugend. Die Jugend, die man verpasst hat, kann man nicht zurückholen. Man macht sich lächerlich, wenn man im Alter versucht, jung zu sein.
    »Nie wieder sind wir nach Acapulco geflogen«, sagte Vika.
    »Die ganze Nacht fuhren wir am Strand entlang.«
    Eine wilde Nacht, eine verrückte Nacht, dachten sie. Wie kindisch wir sein konnten.
    »Er fuhr wie der Henker.«
    »Er sah gut aus«, sagte Ruth.
    Wir kannten ihn nicht, dachten sie. Wir kamen uns vor wie zwanzig. Dabei waren wir erwachsene Frauen.
    Sie lachten auf.
    »Wir waren ganz allein da draußen«, sagte Vika.
    »Zwei Frauen und ein junger Mann.«
    Immerhin war das sicherer als zwei Männer und eine junge Frau, dachten sie. Er war keiner von der Straße. Da wären wir vorsichtig gewesen. Er war gebildet. Das bemerkten wir sofort.
    »Wenn das die Eltern gewusst hätten.«
    »Ah non.«
    Sie sahen in das Halbdunkel des Zimmers, in dem die Wärme der Nachmittagssonne sich ausgebreitet hatte. Sie würden den Ventilator anmachen müssen.
    Das Meer, dachten sie. Wir werden das Meer nicht mehr sehen. So wie wir viele Dinge nicht mehr sehen werden. Wir haben uns vom Meer nicht verabschiedet, das letzte Mal, als wir es sahen. Der Strand, die Wellen. Wir dürfen nicht daran denken, es ist traurig, daran zu denken. Wir haben das Meer geliebt. Und New York. Wir werden New York nicht mehr sehen. Weder das Meer noch New York. Wir wussten, dass wir New York verlassen mussten, aber wir wussten nicht, dass wir die Stadt nicht mehr sehen würden. All die Jahre, die wir hier wohnten, gingen wir davon aus, dass wir alles noch einmal sehen würden, das Meer, New York, die Welt. Wir werden das Meer noch einmal sehen, wir werden noch einmal nach New York fliegen, wir werden noch einmal durch die Welt kommen, sagten wir uns.
    »Wir hatten uns verirrt und fanden mit dem Auto vom Strand nicht mehr herunter«, sagte Vika.
    Was hätte uns beiden passieren können, dachten sie. Wir waren keine kleinen Mädchen. Wir lebten und arbeiteten in New York. Er war ein gutaussehender und gebildeter Mann, und er hatte keine unanständigen Absichten. Er wollte sich nur vergnügen.
    »Der Strand zog sich endlos hin«, sagte Ruth. »Wir saßen im Auto und tranken Whiskey. Aber wir waren nicht betrunken. Und dann liefen wir am Strand entlang, die Kleider über die Knie gerafft.«
    »Nie mehr sah ich einen so kolossalen Sternenhimmel«, sagte Vika.
    Wir sitzen hier und sehen nichts mehr von der Welt, dachten sie, keinen Sonnenaufgang, keinen Sonnenuntergang, keinen Vollmond, wir schauen nicht mehr in den Himmel. Irgendwann waren für uns die

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