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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Rathgeb
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übte regelmäßig, aber widerwillig. Über das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach kam ich nicht hinaus.«
    Klavier zu spielen machte mich traurig, dachte sie. Ich durfte nicht traurig werden. Ich war zu schwach, um auch noch traurig zu sein. Die Eltern hätten über mich gesiegt, wenn ich traurig geworden wäre. Wer traurig ist, kommt nicht vom Fleck. Der bleibt zuhause sitzen, auch wenn er das Leben zuhause nicht aushält, der bleibt dort gefangen, wo die Traurigkeit entstanden ist, die ihn vernichtet. Wie die Mutter, die nicht mehr nach Deutschland zurückkam. Ich mochte nicht dasselbe Instrument spielen wie Vater.
    »Du hast lieber gezeichnet«, sagte Ruth. »Du warst begabt.«
    »Ich zeichnete, aber ich konnte nie gut zeichnen.«
    Ich wollte eine gute Zeichnerin werden, aber dafür reichte meine Begabung nicht, dachte Vika. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg, sagte Vater. Aber so ist es eben nicht. Nicht immer. Man versperrt sich manchmal selbst den Weg, nicht weil man sich selbst im Weg steht, sondern weil man nicht anders kann, weil man für diesen oder jenen Weg nicht gemacht ist. Wer begabt ist, der muss nur seiner Begabung folgen. Der Wille wird von der Begabung geweckt und gezogen. Glücklicherweise reichte mein Kopf für die Mathematik.
    »Du bist zu selbstkritisch«, sagte Ruth.
    So war sie immer, dachte sie. Sie lässt sich keinen Fehler durchgehen. Sie drückt kein Auge zu. Auch bei anderen nicht. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg, sagte sie immer, wie Vater. Frauen dürfen keine Fehler machen.
    »Ich erhielt keinen Zeichenunterricht«, sagte Vika. » In Vaters Augen war das Zeichnen eine Freizeitbeschäftigung. Wer wirklich zeichnen möchte, der muss begabt sein, sagte er. Sonst lohnt sich der ganze Aufwand nicht, sonst verschwendet man nur seine Zeit.«
    Völlig anders redete er über das Klavierspiel, dachte sie. Es fördert die Konzentrationsfähigkeit, sagte er, bildet den Sinn für Genauigkeit und Takt und gibt den haltlosen Gefühlen eine feste Form. Klavier mussten wir spielen, das war sein Wunsch, wir mussten Unterricht nehmen und jeden Tag üben, das ordnete er an. Ein Zeichenlehrer hätte mir geholfen. Mit einem guten Lehrer wäre aus mir eine gute Zeichnerin geworden.
    » Das Zeichnen, sagte er, ist nur eine Spielerei«, sagte Ruth. »Dabei zeichnete er selbst, Landschaften mit Brücken.«
    Er war stolz darauf, dass er Brücken baute, dachten sie. Ein Egoist, der Brücken baute.
    Sie lachten vor sich hin.
    In New York nahm Vika Zeichen- und Ruth Gesangsunterricht. Sie konnten es sich leisten, sie verdienten genug Geld. Keiner konnte es ihnen verbieten. Keinen mussten sie um Erlaubnis bitten. Zwei Mal in der Woche lief Vika nach der Arbeit mit einer Zeichenmappe unter dem Arm zum Unterricht. Die Zeichenmappe war zu groß für sie.
    »Ich sah aus wie Jakob Burckhardt in Basel auf dem Weg zur Universität.«
    »Burckhardt?«, fragte Ruth.
    Sie kann sich an alle Geburtstage, Telefonnummern und Namen erinnern, dachte sie. Auch an die Gedichte der Klassiker. Was sie sich einmal eingeprägt hat, das vergisst sie nicht mehr. Dabei können wir doch von Glück sagen, dass wir vergessen können, dass wir uns nicht an unser ganzes Leben erinnern müssen, an alles, was wir erlebten und erfuhren. Wir halten nur einzelne Erinnerungen aus.
    »Er ist schon lange tot«, sagte Vika.
    Weder die Namen der Lebenden noch die Namen der Toten vergisst sie, dachte Ruth. Ihr Gedächtnis ist phänomenal. Wie bei Vater. Er spielte Klavier häufig ohne Noten. Er kannte die Stücke auswendig. Er setzte sich an das Klavier und spielte. Wir sagten ihm Gedichte auf, und er verbesserte uns, ohne in einem Buch nachschauen zu müssen. Er war davon überzeugt, dass er recht hatte, er ließ sich nie eines Besseren belehren. Mutter wuchs ihm mit ihren Depressionen über den Kopf, und er ging ihr aus dem Weg. Er konnte kein Gespräch führen, nicht mit uns, er erließ nur Anordnungen. Mit Mutter war ein fröhliches Gespräch nicht möglich. Mutter war keine Frau für einen Mann.
    »Ah«, sagte Ruth.
    Ein Jugendfreund, dachte sie. Einer von denen, die ich vergessen habe, mit denen wir ins Kino, ins Theater oder in die Oper gingen. Einer jener jungen Männer, die mich gerne geküsst hätten. Die mir schöne Augen machten. Die mir in den Mantel halfen, mir den Stuhl zurechtrückten, uns abends mit dem Auto nach Hause fuhren. Die ich enttäuschte, die ich abwies, die ich mir entgehen ließ. Die mich nur zur Begrüßung und

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