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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Rathgeb
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Vergangenheit saßen bei jedem Essen mit am Tisch, sie krochen wie ein Heer kleiner schwarzer Tierchen über die weiße Tischdecke, hockten auf der Gabel, die sie zum Mund führten, schwammen im Glas, in das sie Wasser gegossen hatten, und lagen auf dem Rand ihrer Teller. Sie setzten sich zu ihnen auf das Sofa und verfolgten sie in den Schlaf. Das Einzige, was gegen den Andrang der Schatten half, war das Wünschen.
    »Bald gehen wir auf Reisen«, sagte Vika.
    Wenn sie wieder laufen kann, werden wir reisen, dachte sie. Das Reisen machte uns glücklich. Wir setzten uns in ein Flugzeug und waren für die Eltern nicht mehr zu erreichen. Wir versteckten uns vor ihnen in der Fremde. Wir schrieben ihnen Postkarten, aber wir telefonierten nicht mit ihnen, wir verrieten ihnen nicht, wohin wir flogen, wir sagten ihnen nicht, in welcher Stadt wir waren. Wir fragten sie nach ihrer Gesundheit und wir wünschten ihnen alles Gute. Mehr nicht. Sie blieben gesund und wurden alt.
    »Lissabon, Johannesburg, San Francisco.«
    » Nizza, Capri, Venedig.«
    » Wir werden noch etwas erleben«, sagte Ruth.
    Wenn ich wieder laufen kann, werden wir die Koffer packen, dachte sie. Wir lassen uns von einem Taxi zum Flughafen fahren. Wir fliegen nach London. Nach Paris. Nach Madrid. Wir fliegen Business Class. Wir können es uns leisten.
    Jahrelang lebten wir mit Vater und Mutter zusammen und haben uns mit ihnen abgeplagt, dachte Vika. Kein freundliches Wort bekamen wir von ihnen zu hören. Wir hätten sie in ein Heim einweisen können. Aber wir flogen sofort aus New York zu ihnen, als sie uns riefen, und pflegten sie, ohne zu klagen.
    »Wir kochten für sie«, sagte Vika.
    »Wir erledigten den Haushalt für sie.«
    »Wir fuhren sie durch die Gegend.«
    »Wir hörten uns ihr Gejammer an«, sagte Ruth.
    »Sieben Jahre unseres Lebens haben wir für sie geopfert, ohne zu klagen. Für sie war das selbstverständlich, und sie gingen davon aus, dass es für uns selbstverständlich sei.«
    »Es war für uns unvorstellbar, sie in ein Altersheim zu geben.«
    »Es war für uns unvorstellbar, nicht wieder zu ihnen zu ziehen«, sagte Vika.
    »Vater sagte, Kinder seien dafür da, sich um ihre Eltern zu kümmern. Das erwartete er von uns. Wir haben nicht einmal leise dagegen protestiert, wir sagten kein Wort, wir begehrten nicht auf. Er behielt recht.«
    »Er war ein Tyrann.«
    »Wir gingen zu ihnen zurück. Und der Dank? Ein paar Kisten mit alten Büchern.«
    »Jetzt sei nicht ungerecht«, sagte Vika.
    »Es war so.«
    »Es ist vorbei.«

16
    Monatelang hatte sie überlegt , wie sie es dem Vater sagen könnte, jedes Wort hatte sie erwogen, jeden Satz geprobt. Sie stand vor dem Spiegel, übte den festen Blick, sprach leise vor sich hin und begann dann mit einem Mal zu lachen und drehte sich weg, oder es verschlug ihr die Sprache und sie sah nur stumm in ihr Gesicht, in ihre Augen. Der Gesichtsausdruck war entschlossen, entschlossener als ihr Herz, das nach den richtigen Worten suchte und sich die Szene wiederholt ausmalte, zu der es kommen würde. Der Vater war stur und aufbrausend. Sie war eine erwachsene Frau. Sie musste keine Angst vor ihm haben. Aber was sie ihm sagen würde, musste in seinen Ohren ungeheuerlich klingen. Barfuß lief sie in ihrem Zimmer auf und ab, von der Tür zum Schreibtisch und wieder zurück, eine Gefangene, die alle Vorbereitungen für ihre Flucht getroffen hat und auf die Stunde wartete, in der sie aus der Zelle verschwinden würde. Sie würde weggehen, der Entschluss war gefasst. Der Tag war nahe, an dem sie ein letztes Mal in ihrem Bett aufwachen, ein letztes Mal aus ihrem Fenster sehen, ein letztes Mal an ihrem Schreibtisch sitzen würde.
    Und dann war es soweit. Sie ging die Treppe hinunter ins Esszimmer, schwer vom gefassten Vorsatz, zärtlich mit der Hand über das glatte Holz des Geländers streichend. Der Fall der Stufen beruhigte sie. Noch blieb ihr eine Stunde Zeit, in der sie so tun würde, als unterschiede sich dieser Sonntag nicht von den anderen. Sie hatte die Schwester eingeweiht. Nach dem Essen würde sie ihrem Vater erklären, dass sie wegginge, nach New York, um ein eigenes Leben zu beginnen.
    Sie fröstelte, als sie das Esszimmer betrat, sie rieb die Hände aneinander, schob ihren Stuhl zurück und nahm am Tisch Platz. Sie würde Vika nachholen. Aber das wollte sie ihm nicht sagen.
    Sie hatten mit ihren Eltern den Gottesdienst besucht, wie jeden Sonntag, die Eltern liefen vorneweg, in leichten dunklen Mänteln,

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