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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Rathgeb
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zum Abschied auf die Wange küssen durften. Ich wollte mich nicht verlieben und an einen Mann gebunden sein. Keine Ehe, keine Kinder. Ich wollte frei sein, um weggehen zu können von Zuhause, weit weg.
    »Ein berühmter deutscher Historiker, Kunst- und Kulturgeschichte vor allem, aus dem neunzehnten Jahrhundert«, sagte Vika.
    »Ach.«
    So alt sind wir nun auch wieder nicht, dachte Ruth. Was sollen wir mit einem deutschen Historiker aus dem neunzehnten Jahrhundert anfangen? All diese Toten.
    »Er fiel mir gerade ein«, sagte Vika.
    Manche Bilder gehen einem nicht aus dem Kopf, dachte sie. Im Bücherschrank, auf dem zweiten Brett von oben, steht Burckhardts »Kultur der Renaissance«, neben dem »Dürer« von Waetzold, den mir Vater zum fünfzehnten Geburtstag schenkte. Ich las das Buch sofort. Das Bild vom nackten Dürer zeigte ich Ruth noch am selben Abend. Vater musste vergessen haben, dass in dem Buch ein Selbstbildnis des nackten Dürer abgedruckt war. Eine Zeichnung. Dürer war der erste nackte Mann, den wir sahen. Die Eltern sahen wir nie nackt. Wir saßen nebeneinander und schauten uns den jungen nackten Dürer an.
    »Ah.«
    »Dann entzündete sich mein Handgelenk, und ich musste mit dem Zeichnen aufhören, und ich fing nicht mehr damit an, es lohnte das Papier nicht«, sagte Vika.
    Was vorbei ist, das ist vorbei, dachte sie.
    »Du bist zu streng mit dir.«
    »Aber es ist so«, sagte Vika.
    Man muss streng mit sich sein, dachte sie, sonst verliert man die Form, die Fassung. Man wird rührselig, sentimental. Man kann auch seelisch dick und fett werden.
    »Du warst immer zu streng mit dir.«
    Sie war nie weich, nie nachgiebig, dachte Ruth, sie verlangte zu viel von sich und den anderen, sie besaß von früh an einen eisernen Willen, einen klaren Kopf. Sie hatte eine jungenhafte Figur, keine weibliche. Ihr fehlten die Formen. Nie trug sie ein Kleid mit einem Ausschnitt, nie ein enganliegendes Kleid. Es gab bei ihr nichts zu sehen. Ihr Busen war klein, die Hüften ohne Schwung, der Hintern flach. Sie war kantig wie ein standhafter Zinnsoldat. Aber ihre Zunge war spitz. Die Männer mussten sich vor ihr in Acht nehmen. Sie war ihnen überlegen, sie hatte mehr Verstand.
    »Man muss streng mit sich sein«, sagte Vika.
    Man darf sich nicht gehenlassen, dachte sie. Man muss einen klaren Kopf behalten. Ich muss wieder Yoga machen. Jeden Morgen eine Stunde Yoga. Wenn man die Kontrolle über sich verliert, liefert man sich den anderen aus.
    »Wurde ich Opernsängerin, nur weil ich Gesangsunterricht nahm?«, fragte Ruth.
    Ich hätte mich nicht auf eine Bühne gestellt, dachte sie. Ich wollte bewundert werden, aber nicht auf einer Bühne stehen. Das hätte ich mir nicht zugetraut. Dafür fehlten mir der Mut, das Selbstvertrauen. Ich hätte mich niemals so ungeschützt darstellen, so freigiebig zeigen mögen, wie man es machen muss, wenn man auf einer Bühne steht. Man entblößt sich. Man steht dort oben nackt.
    »Aber du konntest singen«, sagte Vika.
    »Das sagst du.«
    Mir fehlte die Begabung, dachte sie. Wer eine Begabung hat, der findet auch den Mut, sich auf eine Bühne zu stellen und sich zu zeigen.
    »Die Musikalische von uns beiden warst du, auch wenn du Wagner nicht mochtest«, sagte Vika.
    Mit Wagner konnte man sie jagen, dachte sie. Die Nibelungen, Parsifal, Tristan und Isolde. Auch Vater mochte Wagner nicht. Wagner sei ihm zu schwülstig, sagte er. Zu viel Theater.
    »Ich gab das Klavierspielen früh auf«, sagte Ruth.
    Ich mochte Vater nicht vorspielen, dachte sie. Ich hasste seinen prüfenden Blick, seine kritischen Kommentare. Alles wusste er besser. Immer hatte er das letzte Wort. Nie war in seinen Ohren etwas perfekt. Er zeigte mit dem Finger auf den kleinsten Fehler. Er drückte kein Auge zu, er lobte nicht. Er hatte seine Vorstellungen, und was wir auch machten, wir blieben hinter diesen Vorstellungen zurück. Er liebte seine Vorstellungen mehr als seine Töchter.
    »Wir spielten vierhändig«, sagte Vika.
    »Ich war immer zu schnell«, sagte Ruth. »Jeden Sonntag mussten wir Vater vorspielen. Er klopfte den Takt. Nie war er mit unserem Spiel zufrieden.«
    »Noch einmal, sagte er. Ihr müsst mehr üben, ermahnte er uns. Wir sollten perfekt spielen. Dabei waren wir Kinder.«
    Bei ihm musste alles perfekt sein, dachte Vika. Er akzeptierte keinen Fehler, nicht den geringsten Fehler ließ er durchgehen. Nicht bei seinen Töchtern. Wir hatten zu funktionieren, wir hatten zu parieren.
    »Ein Tyrann«, sagte

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