Kein Paar wie wir
Ruth.
Er nahm uns die Freude am Klavierspiel, dachten sie. Nach der Arbeit wollte er seine Ruhe haben. Er sei kein Kindermädchen, sagte er, wenn er sich um seine Töchter kümmern sollte, er habe eine anstrengende Arbeit, er baue Brücken, und mit diesen Worten verschwand er in seinem Arbeitszimmer.
»Und so einer nannte sich Brückenbauer.«
»Dass ich nicht lache«, sagte Ruth.
Sie saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer und hatten die Füße vor sich auf den niedrigen Tisch gelegt. Sie kannten keine Langeweile. Auch wenn sie sich durch die Tage treiben ließen, blieben sie gefasst und waren guter Dinge. Nur wenn der Fluss der alltäglichen Abfolgen stockte, spürten sie die Kälte, die von dem Ende ausging. Dann rückten sie enger aneinander, um sich Mut zu machen, und lauschten auf ihren Atem, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie noch im Rhythmus der Lebenden waren, und wiegten sich auf diese Weise wieder ein in die Zuversicht, dass sie noch eine Weile Zeit hätten, bis der Tod käme. Unzählige Male, sagten sie sich, hatten ihre Herzen geschlagen, unzählige Male hatten sich ihre Lungen mit Luft gefüllt, warum sollten sie von heute auf morgen den Dienst aufgeben. Und beruhigt drückten sie sich kurz die Hände.
»Wir pflegten Vater, als er schwach und krank darniederlag«, sagte Vika. » Wir pflegten ihn bis zu seinem Tod.«
Die Eltern konnten sich auf uns verlassen, dachten sie. Für sie war es selbstverständlich, dass wir zu ihnen zurückkamen und sie pflegten. Für uns war es selbstverständlich, dass wir wieder zu ihnen gingen. Wir waren ihre Töchter. Immer noch waren wir ihre Töchter. Wir waren nichts anderes geworden. Weder Geliebte noch Ehefrau noch Mutter. Wir blieben unser Leben lang ihre Töchter. Das nutzten sie aus.
»Bis in den Tod«, bestätigte Ruth.
Am Grab waren nur der Priester, die Mutter und die Töchter. Die Mutter saß auf einem Stuhl, sie konnte nicht mehr lange stehen. Der Vater hatte seine wenigen Freunde und Bekannten überlebt. Die Mutter sagte kein Wort und verlor keine Träne. Sie setzten einen schwarzen Marmorstein mit goldenem Schriftzug auf das Grab.
»Wenn das Wetter gut war, fuhren wir die Eltern jedes Wochenende mit dem Auto zu ihrem Landhaus«, sagte Vika.
Sie bedankten sich kein einziges Mal bei uns, dachten sie. Sie hielten für selbstverständlich, dass wir sie durch die Gegend fuhren, so wie sie alles, was wir für sie taten, für selbstverständlich hielten.
»Kein Wochenende hatten wir Zeit für uns«, sagte Ruth.
Es war wie früher, dachten sie. Als wären wir nie weg gewesen. Als hätten wir nicht in New York gelebt. Und wir fügten uns wie Kinder. Wir rebellierten nicht. Als wären unsere Wünsche erloschen. Wir übten uns in Demut. Wir knieten uns in die neue Aufgabe hinein.
»Unser Leben drehte sich um die Eltern«, sagte Vika. » Jeden Tag und jede Nacht waren wir für sie da. Mehr hätten wir für sie nicht tun können. Mehr hätten sie von uns nicht verlangen können.«
Und kein Wort des Dankes kam über ihre Lippen, dachten sie. Kein einziges Wort. Sogar beim Personal eines Hotels, eines Restaurants bedankt man sich, bei den Dienstmädchen, bei den Kellnern. Aber die Eltern schwiegen. In ihren Augen taten wir nur unsere Pflicht. Und wir empörten uns nicht. Wir unterwarfen uns. Wir übten uns in Barmherzigkeit. Als hätte uns ein schlechtes Gewissen getrieben, als wären wir die Schuldigen gewesen. Wir bettelten um Vergebung.
»Sie verlangten immer mehr von uns«, sagte Ruth.
Es war schlimmer als früher, dachten sie. Wir begannen sie zu hassen, wir wünschten ihnen den Tod, und weil wir sie zu hassen begannen und weil wir ihnen den Tod wünschten, bemühten wir uns noch eifriger, ihnen alles recht zu machen.
»Nie waren sie mit uns zufrieden«, sagte Vika. » Ständig nörgelten sie an uns herum.«
Nie war ihnen etwas recht, dachten sie. Das Essen zu heiß, das Essen zu kalt. Das Kissen zu weich, das Kissen zu hart. Das Zimmer zu hell, das Zimmer zu dunkel. Wir sprachen zu laut, wir sprachen zu leise. Sie behandelten uns wie Kinder, nicht wie erwachsene Frauen, die in New York gelebt hatten. Für sie existierte New York nicht. Sie taten so, als hätte es unsere Jahre in New York nie gegeben. Sie wollten von unserem Leben in New York nichts wissen. Sie fragten uns nie danach. Als sei New York eine Chimäre. Als hätten wir kein Leben ohne sie.
»Sie sind tot«, sagte Ruth.
Aber sie sind nicht weg, dachten sie.
Die Schatten der
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