Kein Schatten ohne Licht
seltsamer Ausdruck, beruhigend sah er aus, so, als wäre sie ein seltenes Tier, das er auf keinen Fall verschrecken wollte. „Du kannst mir vertrauen“, sagte er rasch und bestätigte damit auch gleich den ersten Eindruck, den sie von ihm hatte: einem Menschen, dem man ganz und gar nicht vertrauen konnte.
„ Wer bist du?“, fragte sie scharf und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
„ Du musst dir wirklich keine Sorgen machen“, antwortete der Mann. „Ich will dir helfen. Ehrlich.“
Das war ja alles schön und gut, aber leider hatte er ihre Frage noch immer nicht beantwortet. „Wer du bist, will ich wissen!“, knurrte sie und ließ dabei die grammatikalische Richtigkeit ihres Satzes vollkommen außer Acht.
„ Ich bin Stefan.“ Mit jedem Wort, das die Lippen des lockigen Mannes verließ, kam dieser einen Schritt näher. „Stefan Parker. Dein Onkel.“
Im ersten Moment wollte Melica das alles puren Unsinn abtun. Doch dann erinnerte sie sich an Tizian, den Dämon, den Luzius in Zimmer 610 gefangen hielt. Obwohl sie Tizian im ersten Moment jedes Wort geglaubt hatte, hatte Luzius ihr im Nachhinein alles erklärt. Erklärt, dass Tizian ein Verrückter war, der versucht hatte, ihn umzubringen. Erklärt, dass er ihn solange gefangen halten würde, bis Tizian alles verraten hätte. Erklärt, dass er befürchtete, dass Tizian Komplizen hatte. Erklärt, dass er Angst hatte, dass diese Melica auch nur ein Haar krümmten.
Melica hatte sich so fürchterlich dafür geschämt, dass sie Tizian geglaubt hatte, ja, ihm sogar so weit vertraut hatte, dass ihr selbst für eine kurze, unwirkliche Sekunde der Gedanke gekommen war, Luzius selbst umbringen zu wollen!
Und jetzt? Jetzt stand sie vor einem Mann, der behauptete, dass Tizians Geschichte der Wahrheit entsprach! Was gleichzeitig bedeutete, dass Luzius sie angelogen hatte.
Melica fühlte sich wie betäubt, schüttelte unendlich langsam den Kopf. „Nein. Das... das kann nicht... Ist das ein Trick?“, fragte sie leise. „Ich... Luzius? Ist das wieder einer deiner Scherze?“
Ein Ausdruck des Bedauerns legte sich auf die Züge des Fremden. „Ich bin von Anfang an gegen diesen Plan gewesen“, murmelte er, bevor er den Kopf hob und sie eindringlich musterte. „Nein, Melica. Das ist kein Trick. Ich bin es wirklich. Du musst mir in dieser Hinsicht einfach vertrauen. Kannst du mir bitte verraten, wo Luzius steckt?“
„ Nein!“, fauchte Melica. Da wütete ein Zorn in ihr, heiß und kalt zugleich, eine Wut gegen sich selbst, weil sie einfach nicht verstand. Luzius hatte wirklich etwas Besseres als sie verdient. Kaum hatte dieser Gedanke ihren Verstand erreicht, öffnete sie den Mund und begann zu schreien: „Jareth! Jareth! Hilfe verdammt!“
Der fremde Mann reagierte seltsam. Wut wäre angebracht gewesen, Verzweiflung, ja sogar Panik! Ein mitfühlendes Lächeln war es jedoch nicht. „Jareth kann dir nicht helfen, Hexe.“
Die Worte kamen jedoch nicht vom gelockten Mann vor ihr. Das wusste Melica nicht nur, weil sich seine Lippen nicht bewegt hatten. Sondern vor allem deshalb, weil die Stimme eine andere war. Sie war viel tiefer, dunkler, kälter. Und kam ihr seltsam vertraut vor.
Melica konnte gar nicht anders, als in Richtung Tür zu blicken. Dort stand er, lässig an den hellen Türrahmen gelehnt. Groß, viel größer als Luzius. Blass. Mit schwarzen Haaren, die ihm unordentlich in die mindestens genauso dunklen Augen fielen.
Ein Röcheln entfloh Melicas Lippen. Diese Augen! Sie kannte sie! Natürlich tat sie das! Und wie nur wenige Stunden zuvor in ihrer Erinnerung brannten sich diese Augen förmlich in ihren Verstand. Die Zeit stand still, die Erde drehte sich nicht länger. Ein Gefühl der Hilflosigkeit stieg in Melica auf und durchrieselte ihren gesamten Körper. Wie konnte es sein, dass sie sich an ein Paar Augen erinnerte, das sie niemals zuvor gesehen hatte? Das machte doch alles keinen Sinn! Außer...
Melica stockte. Ihr Blick huschte von einem Fremden zum anderen. „Außer Tizian hat die Wahrheit gesagt“, sagte sie zu sich selbst und schüttelte ungläubig den Kopf. Schon allein der Gedanke daran war tiefster Verrat. So etwas hatte Luzius nicht verdient! Er war großartig, nett und liebevoll! Er las ihr -
Melica kam nicht einmal in Gedanken dazu, ihre Aufzählung zu beenden, denn die Stimme des gelockten Mannes durchbrach die Stille: „Tizian lebt noch?“
„ Es gibt wichtigere Dinge als Barkley, Stefan“, grollte der Mann mit den
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