Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
musste in Aktion treten, einen weiteren Stein ins Rollen bringen.
»Hast du sie gesehen?«, fragte er.
»Nein.«
»Wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
Plötzlich neigte Hoyt den Kopf zur Seite. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen. Dann erhob er sich und schlich zum Fenster. Die Jalousien waren heruntergezogen. Er spähte seitlich daran vorbei.
Ich stand auf.
»Setz dich.«
»Erschieß mich doch, Hoyt.«
Er sah mich an.
»Sie steckt in Schwierigkeiten«, sagte ich.
»Und du glaubst, du kannst ihr helfen?« Er schnaubte höhnisch. »Ich hab euch beiden in jener Nacht das Leben gerettet. Und was hast du getan?«
In meiner Brust krampfte sich etwas zusammen. »Ich wurde bewusstlos geschlagen«, sagte ich.
»Genau.«
»Du …« Ich konnte kaum sprechen. »Du hast uns gerettet?«
»Setz dich.«
»Wenn du weißt, wo sie ist …«
»Dann würde ich jetzt nicht mit dir reden.«
Ich trat noch einen Schritt auf ihn zu. Und noch einen. Er richtete die Pistole auf mich. Ich ging weiter. Ich ging so lange weiter, bis die Mündung seiner Waffe auf mein Brustbein drückte.
»Du erzählst mir jetzt, was los ist«, sagte ich, »oder du bringst mich um.«
»Willst du es wirklich darauf ankommen lassen?«
Ich sah ihm gerade in die Augen und hielt vielleicht zum ersten Mal, seit wir uns kannten, seinem Blick stand. Irgendetwas geschah mit uns, wir verstanden uns gegenseitig ein klein wenig. Bei ihm war wohl auch Resignation mit im Spiel, genau kann ich es allerdings nicht sagen. Jedenfalls blieb ich, wo ich war. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie sehr mir deine Tochter fehlt?«
»Setz dich, David.«
»Erst wenn …«
»Ich erzähl’s dir ja«, sagte er leise. »Setz dich.«
Während ich langsam zur Couch zurückging, ließ ich ihn nicht aus den Augen. Dann nahm ich Platz. Er legte die Pistole auf den Beistelltisch. »Willst du einen Drink?«
»Nein.«
»Nimm lieber einen.«
»Jetzt nicht.«
Er zuckte die Achseln und ging zu der billigen Vitrine, in der sich die Hausbar befand. Die Gläser standen ungeordnet herum, schlugen bei jeder Bewegung des alten, klapprigen Möbels klirrend aneinander, und ich war inzwischen absolut sicher, dass dies heute nicht sein erster Gang zur Hausbar war. Er ließ sich Zeit beim Einschenken.
Ich wollte ihn zur Eile antreiben, hielt mich aber zurück, weil ich meinte, ihn fürs Erste genug gedrängt zu haben. Er musste sich ein bisschen sammeln, seine Gedanken ordnen, das Ganze von unterschiedlichen Seiten betrachten. Nichts anderes war zu erwarten gewesen.
Er nahm das Glas in beide Hände und setzte sich in den Sessel. »Ich hab dich nie so recht gemocht«, meinte er. »Wobei das eigentlich nicht gegen dich persönlich ging. Du kommst aus einer guten Familie. Dein Vater war ein anständiger Mann, und deine Mutter, na ja, sie hat sich zumindest Mühe gegeben, oder?« In einer Hand hielt er den Drink, mit der anderen fuhr er sich durchs Haar. »Aber ich hatte immer das Gefühl, dass deine Beziehung zu meiner Tochter …«, er blickte zur Decke, suchte da oben nach den richtigen Worten, »… sie in ihrer Entwicklung gehemmt hat. Mir ist jetzt erst klar geworden … ja, was für ein unglaubliches Glück ihr beide gehabt habt.«
Es wurde ein paar Grad kälter im Zimmer. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen und ruhig zu atmen, damit er nicht den Faden verlor.
»Die Nacht am See«, begann er. »Da fange ich an. Als sie sie holen wollten.«
»Wer wollte sie holen?«
Er starrte in sein Glas. »Unterbrich mich nicht«, sagte er. »Hör einfach zu.«
Ich nickte, aber er sah mich nicht an. Er starrte weiter in seinen Drink und suchte am Grunde des Glases nach Antworten.
»Eigentlich müsstest du wissen, wer sie holen wollte«, sagte er. »Jetzt zumindest. Die beiden Männer, deren Leichen sie da oben gefunden haben.« Unvermittelt durchstreifte sein Blick den Raum. Er griff nach seiner Pistole, stand auf und sah wieder an der Jalousie vorbei aus dem Fenster. Ich wollte schon fragen, was er denn da draußen suchte, ihn aber auch nicht aus dem Konzept bringen.
»Mein Bruder und ich sind erst ziemlich spät angekommen. Fast wäre es zu spät gewesen. Wir haben uns so aufgebaut, dass wir sie auf halber Strecke zwischen der Straße und dem Haus stoppen konnten. Du weißt schon, da, wo die beiden Felsen sind.«
Er blickte kurz zum Fenster und sah mich dann an. Ich kannte die beiden Felsen. Sie waren knapp einen Kilometer vom See entfernt. Beide waren riesig,
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