Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
gewesen. Jeremiah wusste, dass kein Mensch dafür geschaffen war, in einem Käfig zu leben. Einige überstanden es dennoch. Jeremiah hätte es nicht gekonnt. Er hatte mal einen Cousin namens Perry gehabt, der zu einer achtjährigen Strafe in einem Staatsgefängnis verurteilt worden war. Perry hatte 23 Stunden am Tag in einer winzigen Zelle verbracht. Eines Morgens hatte Perry versucht, sich umzubringen, indem er mit dem Kopf voran gegen die Betonmauer gerannt war.
So etwas hätte Jeremiah auch getan.
Also hielt er den Mund und tat nichts. Acht Jahre lang zumindest.
Aber er dachte oft an diese Nacht. Er dachte an die nackte junge Frau. Er dachte an die wartenden Männer. Er dachte an das Rascheln in der Nähe des Autos. Er dachte an das Ekel erregende, dumpfe Geräusch, als Holz auf nacktes Fleisch traf. Er dachte an den Mann, den sie zum Sterben zurückgelassen hatten.
Und er dachte an die Lügen. Am meisten machten ihm die Lügen zu schaffen.
12
Als ich wieder in die Klinik kam, war das Wartezimmer randvoll mit den Schniefenden und den Ungeduldigen. Im Fernseher lief ein vom vielen Gebrauch verblasstes Video von Disneys Die kleine Meerjungfrau ; der Videorecorder war so eingestellt, dass das Band am Ende immer wieder zurückgespult wurde und von vorne anfing. Nach den Stunden beim FBI verspürte ich ein gewisses Mitleid mit dem Band. Carlsons Worte - er war eindeutig der Chef - gingen mir immer wieder durch den Kopf, während ich versuchte, herauszubekommen, was er wirklich von mir wollte. Es brachte mich aber nicht weiter, das Ganze wurde eher noch undurchsichtiger und bizarrer. Außerdem bekam ich davon mächtige Kopfschmerzen.
»Yo, Doc.«
Tyrese Barton sprang auf. Er trug eine weite Raver-Hose, deren Schritt knapp über den Kniekehlen hing, und eine Art zu groß geratenes Universitäts-Jackett - beides von einem Modedesigner, von dem ich noch nie gehört hatte, was sich jedoch mit hundertprozentiger Sicherheit demnächst ändern würde.
»Hi, Tyrese«, sagte ich.
Tyrese vollführte ein kompliziertes Handschlag-Ritual mit mir. Es lief wie ein Tanz ab, bei dem er führte und ich seinen Bewegungen folgte. Er und seine Freundin Latisha hatten einen sechsjährigen Sohn, den sie TJ nannten. TJ war Bluter. Außerdem war er blind. Ich war ihm zum ersten Mal begegnet, als er als Säugling in die Notaufnahme eingeliefert wurde und Tyrese im Begriff war, verhaftet zu werden. Tyrese behauptete, ich hätte seinem Sohn an jenem Tag das Leben gerettet. Das war übertrieben.
Aber möglicherweise hatte ich Tyrese gerettet.
Er war der Ansicht, wir wären dadurch Freunde geworden - wobei er sich gewissermaßen als den Löwen sah und mich als die Maus, die ihm einen Stachel aus der Pfote gezogen hatte. Da irrte er sich.
Tyrese und Latisha waren nicht verheiratet, trotzdem war er einer der wenigen Väter, die ich hier überhaupt zu Gesicht bekam. Er hörte auf, mir die Hand zu schütteln, und schob mir zwei Hundertdollarnoten zu, als wäre ich der Oberkellner im Le Cirque.
Dann sah er mich durchdringend an. »Sorgen Sie gut für meinen Jungen.«
»In Ordnung.«
»Sie sind der Größte, Doc.« Er gab mir seine Visitenkarte, auf der weder Name noch Adresse oder Beruf stand. Nur eine Handy-Nummer. »Wenn Sie irgendwas brauchen, egal was, rufen Sie mich an.«
»Das merk ich mir«, sagte ich.
Ohne den Blick abzuwenden, wiederholte er: » Egal was, Doc.«
»Klar.«
Ich steckte die Scheine ein. Wir spielten seit sechs Jahren dasselbe Spielchen. Ich hatte durch meine Arbeit hier einige Drogenhändler kennen gelernt - doch keiner der anderen hatte sechs Jahre überlebt.
Natürlich behielt ich das Geld nicht. Ich gab es Linda für ihre Stiftung. Rein juristisch betrachtet durchaus fragwürdig, letztlich hielt ich es jedoch für besser, dass das Geld an eine wohltätige Stiftung ging und nicht in den Händen eines Drogenhändlers verblieb. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Geld Tyrese hatte; allerdings fuhr er immer nagelneue Autos - vorzugsweise BMWs mit verspiegelten Scheiben - und die Kleidung seines Sohnes hatte mehr gekostet als alles, was ich in meinem Kleiderschrank hängen hatte.
Die Mutter des Kindes war aber leider Gottes bei Medicaid registriert, also waren die Klinikbesuche umsonst.
Schwer zu ertragen, ich weiß.
Tyreses Handy gab eine Hip-Hop-Melodie von sich.
»Ich muss da ran, Doc. Business.«
»Klar«, sagte ich noch einmal.
Manchmal werde ich wütend. Wer nicht? Trotzdem erkenne ich durch den
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