Kein Tod wie der andere
reichten ihre Gedanken noch zurück, als sie wieder aufwachte. Sie lag am Rand eines Waldweges. Wahrscheinlich hatte sie mehrere Stunden geschlafen, jedenfalls war es schon Abend, und sie wusste, dass es jetzt schnell dunkel werden würde. Noch schlaftrunken konnte sie nicht so recht erfassen, was mit ihr geschehen war. Dann erinnerte sie sich, dass Shiwen davon gesprochen hatte, dass man sie in einen entlegenen Wald bringen würde. Da lag sie jetzt offensichtlich. Sie richtete sich auf, betrachtete ihren zerschrammten Körper und fühlte an ihrer Stirn eine Beule, an die sie sich nicht erinnern konnte. Sie trug auch wieder ihr zerrissenes Kleid und war am ganzen Körper verdreckt, als ob eine Jiao sie niemals berührt hätte. Wahrscheinlich würde man bei Thill keinerlei Spuren finden, weder von ihr noch von den Chinesen. Shiwen hatte es so angekündigt.
Sie rappelte sich auf und schaute den Waldweg in beide Richtungen entlang. Wohin sollte sie gehen? Dann sah sie in ein paar Metern Entfernung einen Streifen Stoff an einem Ast hängen, der zu ihrem Kleid zu gehören schien. Sie schaute auf ihren Saum und stellte fest, dass dort ein größeres Stück fehlte. Sie ließ den Fetzen hängen und ging einfach weiter in die vorgegebene Richtung.
Anfangs hatte sie noch genug Licht, um auch in den Laubwald, der sie zu beiden Seiten begleitete, hineinschauen zu können. Doch es wurde schnell dunkler, und sie war froh, dass sie in der zunehmenden Dämmerung noch den Waldweg erkennen konnte. Einmal hörte sie vor sich ein Motorengeräusch, das zunächst lauter, dann wieder leiser wurde. Wahrscheinlich ein vorbeifahrendes Auto. Nach ihrer letzten Erfahrung vermochte sie daraus keine rechte Hoffnung zu schöpfen. Dennoch war sie erleichtert, als vor ihr eine Schranke auftauchte und dahinter die flache Silhouette einer Landstraße. Und als sie beim Näherkommen ihre Tasche flach vor einem rostigen Pfosten entdeckte, war sie sich erstmals sicher, dass Shiwen sie nicht belogen hatte. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, dass sie ihm dafür regelrecht dankbar war.
Sie öffnete die Tasche und fand darin sofort ihr Smartphone. Als das Display aufleuchtete, sah sie die Meldung von vierzehn entgangenen Anrufen. Drei waren von Kommissar Buhle, elf von Steff. Ihr schossen die Tränen in die Augen, als sie ihren Namen sah. Sie wählte aber zunächst die Nummer des Kommissars. Es war besetzt. Zuerst wollte ein Anflug von Ärger und Verzweiflung sie überkommen, bis ihr klar wurde, dass sie gar nicht wusste, wo sie sich überhaupt befand. Sie ging zur Straße und eine kurze Strecke an ihr entlang, bis sie an einem Seitenpfosten eine Nummer fand: CR 110. Sie drückte noch einmal auf die Nummer des Kommissars und hörte erleichtert das Freizeichen.
* * *
Die vier Polizisten und eine Krankenschwester verfolgten gebannt das Telefonat, das Buhle mit Hannah Sobothy führte. Es war nicht allzu lang, aber aufgrund seiner Äußerungen wussten alle schon, dass es der Reporterin leidlich gut ging, bevor er das Gespräch beendete. Es war die erste wirklich gute Nachricht in den letzten Stunden gewesen, und doch stand er fassungslos da.
Es war Gerhardts, der als Erster das Wort ergriff: »Also, wenn keiner etwas Besseres weiß, fahre ich zurück nach Deutschland und kümmere mich um Nanette Bonitzer. Christian holt Hannah Sobothy, Mich fährt zurück zum Haus der Dardennes, und ich denke, Henri verspürt noch keine Lust, Eric Dardenne einen ruhigen Schlaf zu gönnen.«
Die Ansprache löste die kurze Starre, die die Kollegen befallen hatte. Buhle war Paul Gerhardts dafür mehr als dankbar. Die von der plötzlichen Eile der Polizisten überraschte Krankenschwester drückte sich an die Wand des Flures, als bis auf Ducard alle zum Ausgang eilten.
Schon während des Telefonats hatte der junge luxemburgische Polizist signalisiert, dass er die CR 110 kenne. Er und Buhle fuhren bereits mit eingeschaltetem Blaulicht zur nahe gelegenen Autobahn. Der junge Luxemburger fuhr schnell und souverän. Die CR 110 zog sich sicher über etliche Kilometer durch das Großherzogtum. Buhle vertraute seinem Kollegen, dass er wusste, wohin sie jetzt am besten fahren mussten. Dennoch fragte er nach dem Ziel.
»Es gibt einen größeren Waldbereich ganz in der Nähe zur belgischen Grenze und direkt an der Autobahn. Ansonsten gibt es da im Westen nur wenig Wald. Das blöde ist nur, am besten … Moment mal bitte.« Sie waren bereits auf der Autobahn. Der Polizist
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