Kein Tod wie der andere
Jugendamt übergeben.
Suzanne Altmüller war vor gut eineinhalb Monaten auf sie zugekommen. Eine Kollegin aus Bitburg hatte sie empfohlen, weil Merteskaul gerade soeben noch im Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes im Kreis Trier-Saarburg lag. Marie war halbtags als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni tätig, übernahm aber für das Jugendamt die Betreuung einzelner akuter oder besonders schwieriger Fälle. Zoé hatte den Tod ihrer Schwester relativ gut verkraftet. Sie besuchte weiter die Schule, traf sich mit Freundinnen und ging reiten. Sicherlich war ihre frühere Fröhlichkeit nicht mehr da, aber alle waren erstaunt, wie schnell Zoé mit dem Tod von Anne zurechtgekommen war. Aber genau das war es, was ihrer Mutter Schwierigkeiten machte und weswegen sie sich an eine Psychologin gewandt hatte.
Für Marie waren die Symptome hingegen klar zu deuten. Zoé hatte den Tod ihrer Schwester einfach verdrängt; hatte sich dadurch selbst vor einem Absturz in die Tiefen von Trauer, Panik und Verzweiflung geschützt. Ihr anscheinend normales Verhalten spiegelte keinen gefestigten psychischen Zustand wider, sondern verschleierte nur die inneren Ängste und Verletzungen, die der Verlust eines nahen Familienmitglieds mit sich bringt.
Erst nach dem Unfalltod von Zoés Vater hatte Marie den Eindruck gewonnen, etwas näher an Zoé herangekommen zu sein. Aber auch nur, weil das Kind in seiner neuen Rolle überfordert war. Zoé hatte begonnen, die Trösterin für ihre Mutter zu mimen. Zeigte nach außen hin eine Stärke, die so nicht existieren konnte. Marie hatte beobachtet, wie das Mädchen es sogar geschafft hatte, am Rande der Beerdigung von Alexander Altmüller ihre Mutter vor den Vorwürfen der Schwiegermutter zu schützen, um die total aufgelöste Suzanne anschließend auch noch zu trösten. Neben ihr hatte jemand fast anerkennend gesagt: »Das Mädchen ist stark«, doch das war ein Trugschluss gewesen. Es war vielmehr der Moment, in dem Marie am meisten Angst um ihre Patientin gehabt hatte. Bis zur letzten Nacht, als sie den Einbrecher im Haus in der Merteskaul gehört hatte.
Die beiden Mädchen malten immer noch, ohne miteinander zu reden, jedes für sich mit den Buntstiften und dem Malblock beschäftigt. Marie hatte lange überlegt, wie sie es ihren Kindern nahebringen konnte, dass Zoé zumindest eine Zeit lang bei ihnen wohnen sollte. Gerade bei Nora bestand die Gefahr, dass sie mit Eifersucht reagieren könnte. Doch offenbar hatte sie es geschafft, Nora von der Hilfsbedürftigkeit Zoés zu überzeugen. Und sie war verblüfft gewesen, als die beiden Mädchen sich nach nur einer Stunde, nachdem sie mit Nora ihre Hausaufgaben gemacht hatte, die Buntstifte holten und anfingen zu malen.
Marie wurde durch ein kurzes, dreimaliges Klingeln aus ihren Gedanken gerissen. Nora hob sofort den Kopf und wollte schon aufstehen.
»Nora, bleib ruhig sitzen. Ich kümmere mich um Mattis. Wollt ihr noch Limonade?«, fragte Marie.
Nora zögerte ein wenig. Normalerweise lief sie ihrem Bruder gern entgegen; schon allein deshalb, weil es ihn nervte. Nun schaute sie aber auf Zoé. Die saß seit dem Türklingeln kerzengerade und regungslos da. Ihre Pupillen zuckten unruhig von einem Punkt zum anderen. »Das ist nur mein Bruder, Zoé. Möchtest du auch Bionade? Ich mag am liebsten Holunder. Möchtest du auch davon?«
Marie hätte ihre Tochter am liebsten fest an sich gedrückt. Stattdessen versuchte sie, all ihre Liebe und ihren Stolz in den Blick zu legen, als Nora sie wieder anschaute und sagte: »Ich glaub, Zoé will auch etwas, Mama.«
Marie ging ins Haus und begrüßte ihren Sohn.
»Ist das Mädchen noch bei uns?«, war seine erste Frage.
»Ja, sie hat viel mitgemacht in den letzten Wochen und hat momentan niemanden, der sich um sie kümmert.«
»Und das machst du jetzt? Bleibt sie länger?«
»Ich weiß es noch nicht, Mattis. Macht es dir etwas aus, wenn sie noch ein wenig bleibt? Nora scheint gut mit ihr zurechtzukommen. Ich glaube schon, dass wir Zoé sehr helfen würden, wenn sie bei uns bleiben könnte, bis ihre Mutter wieder auftaucht.«
Sie überlegte, wie viel sie Mattis noch mitteilen konnte, was sich dann aber erübrigte.
»Ist sie an meinem Geburtstag auch noch da? Was ist mit meiner Feier?«, fragte er schroff.
Marie schloss kurz die Augen. Mattis’ Geburtstag am kommenden Sonntag hatte sie komplett ausgeblendet. Er hatte seine Freunde eingeladen und freute sich schon lange darauf. Nein, sie durfte ihren Sohn
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