Kein Tod wie der andere
Jugendfußballturnier, an dem Mannschaften aus ganz Luxemburg teilnahmen. Den Anfang machten an diesem frühen Freitagnachmittag die Jüngsten. Reno sah auf jeweils einer Sportplatzhälfte bunte, vielbeinige Knäuel sich über den gepflegten Rasen schieben. Dazwischen sprang ab und zu ein Fußball heraus, dem alle Spieler auf dem Platz nachrannten, bis sie ihn wieder, zu einer amorphen Masse vereinigt, umhüllten. Einen großen taktischen Unterschied zur ersten Herrenmannschaft vermochte er nicht festzustellen, nur die Laufbereitschaft schien ihm bei den Kleinen deutlich höher zu sein. Er fragte Eltern, die neben ihm standen, welcher Altersklasse die Jungs und Mädchen angehörten. Es waren Bambinis, die maximal Sechsjährigen, die da hinter dem Ball herjagten. Kindergartenkinder also.
Kindergartenkinder wie Anne Altmüller. Er bekam wieder dieses furchtbare flaue Gefühl im Magen, als er an die Kleine dachte. Er hatte sie nie gesehen, nur gehört, dass sie gestorben war. Gestorben an einer ungeklärten Viruserkrankung. Er musste sich an dem verzinkten Rohrgeländer festhalten, an dem die Werbebanden angebracht waren. Ungeklärte Viruserkrankung. Hätten sie ihn gefragt, hätte er ihnen sagen können, welche Viren für den Tod des Mädchens verantwortlich waren.
Zum Glück hatte ihn keiner gefragt, obwohl er die ersten Tage fest damit gerechnet hatte. Er hatte überlegt, zu verreisen, einfach abzuhauen. Aber von seiner Arbeit aus ging das überhaupt nicht. Es wäre auch zu auffällig gewesen. So hatte er tagsüber nach jedem Fremden Ausschau gehalten, der die Institutsräume betrat, und in der Nacht jeden Moment mit einem alles durchdringenden Klingeln an der Wohnungstür gerechnet. Wie er es schon so häufig im Fernsehen gehört hatte, bevor sie einen holen kamen.
Doch es kam niemand. Das Angstgefühl verflog und wurde durch ein wachsendes Schuldempfinden ersetzt. Er versuchte, sich das auszureden, versuchte, dem zu entfliehen, es zu ignorieren. Es hatte zunächst nichts geholfen. Langsam stellte er fest, dass man sich auch an Schuld gewöhnen konnte, ähnlich wie an einen chronischen Schmerz oder den Verlust einer wichtigen Bezugsperson. Es ging. Und es ging noch besser, als Dardenne ihm erzählte, dass Altmüller bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Die Erleichterung war zunächst groß. Er schlief wieder durch. Bis eine Äußerung Dardennes ihn aufhorchen ließ.
Konnte er ihm noch trauen? War es womöglich doch ein Fehler gewesen, ihm alles anzuvertrauen, ihn zum Mitwisser zu machen? Damals hatte er mit der Situation nicht umgehen können, sich unsicher gefühlt, jemanden benötigt, der ihn führte. Doch nun sah er es als Fehler an, geredet zu haben. Als einen Fehler, den er womöglich noch korrigieren musste.
6
Avelsbach; Freitag, 10. Juni
Marie Steyn hatte sich etwas abseits auf der Terrasse in den Schaukelstuhl gesetzt, ihre Schuhe, Strümpfe und Hose ausgezogen und zwei weitere Knöpfe ihrer Bluse geöffnet. Trotz des Sonnensegels war es richtig heiß. Unter normalen Umständen hätte sie es genossen, einfach nur dazusitzen. Doch es waren keine normalen Umstände. Zoé und Nora saßen am Tisch und malten. Es waren die ersten Momente, in denen Marie in Ruhe über das nachdenken konnte, was seit gestern Abend geschehen war. Den nächtlichen Besuch hatte sie abgehakt. Es war nichts passiert, das war das Wichtigste. Um alles andere konnte sich Christian mit seinen Leuten kümmern. Für sie war es vorrangig, Zugang zu Zoé zu bekommen. Das Mädchen hatte sich am Morgen zwar überraschend schnell auf die Fahrt nach Avelsbach eingelassen. Aber wahrscheinlich war die Angst, wieder allein zu sein, ihre Hauptantriebsfeder gewesen. Ansonsten ließ Zoé weiter keine Nähe zu. Das hatte sich erst etwas gegeben, als Nora sich um sie gekümmert hatte.
Marie betrachtete ihre Tochter. Es war erstaunlich, wie sie mit ihren sieben Jahren alles meisterte. Der Mord in ihrem Haus letztes Jahr und alles, was danach folgte, war eine wahnsinnige Belastung für Nora gewesen. Aber sie hatte es besser weggesteckt als ihr drei Jahre älterer Bruder. Seit einigen Wochen, etwa mit dem Frühlingsbeginn, war die Last, die auf ihrer Familie lag, langsam gewichen; in kleinen Schritten nur, doch spürbar. Für Marie war es eine große Erleichterung gewesen, diese Entwicklung zu erkennen. Und nun? Nun brachte sie ein stark traumatisiertes Kind in ihre Familie. Aber was hätte sie tun sollen? Sie konnte Zoé unmöglich einfach dem
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