Kein Tod wie der andere
dem Tod ihrer Schwester in ganz ausgeprägter Form so gemacht. Dazu kommt, dass sie sich nach dem Verschwinden ihrer Mutter und dem Einbrecher auch noch völlig zurückzieht. Das Kind ist völlig traumatisiert. Da tobt es furchtbar in ihr. Sie wird euch nicht helfen können.«
Buhle nickte. »Welche Auswirkungen würde es haben, wenn ihre Mutter … auch noch tot ist?«
»Ich weiß es nicht. Ich möchte es auch nicht wissen. Findet sie einfach lebend.«
Marie fühlte sich nur noch leer.
* * *
Der Besuch bei Marie hatte bei Christian Buhle ein zwiespältiges Gefühl hinterlassen. Das lag nicht nur an dem Widerstreit zwischen persönlicher Betroffenheit und kriminalistischer Sachlichkeit, mit der er sich über den seelischen Zustand von Zoé Altmüller erkundigt hatte. Den hatte er schließlich schon immer durchlebt, auch wenn er nach außen den distanzierten Polizisten mimte. Was ihn vielmehr verwirrte, war die Tatsache, dass er sich nicht ausschließlich auf den Fall konzentrieren konnte, sondern seine Gedanken immer wieder zu Marie abdrifteten. Das kannte er nicht. Das widerstrebte ihm, weil es seine Professionalität in Frage stellte. Das verfolgte ihn bis in seine Dienststelle, zusammen mit der scheinheiligen Frage, warum das wohl so war.
Vor einem halben Jahr hatte er die verletzte Marie Steyn in den Armen gehalten, bis die Rettungssanitäter sie in ihre medizinische Obhut nahmen. Sie waren sich seitdem körperlich nicht mehr so nahegekommen, bis er sie heute Morgen im Haus der Altmüllers umarmt hatte. In der Zeit dazwischen hatte er viel nachgedacht. Ja, vor allem gedacht, wie er es immer tat. So hatte sich langsam die Erkenntnis in seinem Kopf eingenistet, dass es für ihn endlich wieder an der Zeit war, zu empfinden. So etwas wie eigene positive Gefühle wieder zuzulassen nach den vielen Jahren der Abstinenz. Es hatte nur nicht so einfach funktioniert. Er hatte sich mit Marie einige Male getroffen, nachdem sie ausreichend Zeit gehabt hatte, die Ereignisse in ihrem Haus zu verarbeiten. Es waren nette Abende gewesen, auch einmal ein Ausflug, eine Wanderung auf einer der Traumschleifen im Hunsrück. Er spürte, dass etwas Besonderes zwischen ihnen lag, etwas Verbindendes. Nur war es ihm bislang nicht gelungen, es richtig einzuordnen. Hilfestellungen von Marie erfuhr er dabei nicht, und das wahrscheinlich ganz bewusst, wie er sie einschätzte. Sie war in dieser Beziehung die Wissende, er definitiv nicht.
Heute Abend war jedoch regelrecht eine Wand zwischen Marie und ihm gewesen. Er hatte gespürt, wie sie seine ihm alle Überwindung kostenden Gesten abgelehnt hatte. Wie sie sich noch nicht einmal als Fachfrau in seine Untersuchungen einbeziehen ließ. Heute Abend hatte er den Eindruck, sie wolle einfach nichts von ihm wissen. Und er verstand nicht, warum.
Buhle verharrte am Fenster seines Büros und schaute auf das Treiben der am Abend erwachenden Stadt hinab. Nach einem vielversprechenden Frühling, der bereits Sommergefühle in der Moselmetropole geweckt hatte, hatte die lange Regenperiode für spürbare Ernüchterung bei den Trierern und ihren zahlreichen Gästen gesorgt. Das angekündigte sonnige Wochenende war für viele wie eine Befreiung. Obwohl die abendlichen Temperaturen es eigentlich noch nicht wirklich zuließen, hatte die Schar der feierfreudigen Jugendlichen ihre Kleidung bereits ausnahmslos auf Sommerzeit umgestellt. Die Jungs schienen enge T-Shirts, die Abstand zu den tief hängenden Hosen und somit Platz für die dazwischen hervorquellenden Boxershorts ließen, für angemessen zu halten. Die Mädchen bevorzugten luftige Blusen mit offen getragenen Westen über engen Jeans, was Buhle noch annähernd vernünftig fand. Über die ersten Kinder, anders konnte er sie nicht bezeichnen, die bereits in Tops, Shorts und Miniröcken in ihren Schühchen über die Bordsteine der Bussteige tippelten, konnte er nur den Kopf schütteln.
Die Dämmerung legte sich über die Stadt, in der das lange vernachlässigte Nachtleben nun wieder an Fahrt aufnehmen würde. Buhle dachte an seine Jugend in Köln zurück. Es kam eine entfernte Ahnung auf, dass er dieses Gefühl jugendlicher Leichtigkeit eigentlich kennen sollte. Zu der Überlegung, ob es nach dieser langen Zeit für ihn noch eine Rückkehr zu nächtlichen Vergnügungen geben könnte, kam er nicht mehr. Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
Er schloss die Augen für den kurzen Moment bis zum nächsten
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