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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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der Hieroglyphen, der Kartuschen und der Kalamoi.
    Yves’ stets wache Neugier bleibt unbefriedigt. Über die Jahre hinweg lernte er viel über die Fauna der tiefsten Meeresgräben, die Völkerwanderungen in der Frühgeschichte, die Genese des Satzes bei Flaubert, die barocke Harmonielehre, die ersten Jahrhunderte der katholischen Kirche, die Dichtung der »Grands Rhétoriqueurs«, die einander ablösenden Farbenlehren, die Gravitationskraft im Umkreis derSchwarzen Löcher, die Geschichte des Bebop und des Afterhour-Jazz, die Logik der symbiotischen Beziehungen, die Forschungen zu einer einheitlichen Theorie des Weltalls und sogar die Lösung von Differentialgleichungen. Jedes Forschungsgebiet bindet ihn einige Wochen, manchmal einige Monate. Er kauft sich so lange die jeweiligen Standardwerke, bis er sich darüber ärgert, in dem einen Buch etwas über ein Konzept lesen zu müssen, das in einem anderen bereits erklärt worden ist. Dann macht er sich daran, die einzelnen Details besser zu verstehen. Sobald er über ein Thema sehr viel weiß, lässt er davon ab, und eine neue Leidenschaft ergreift Besitz von ihm. Er vergisst enorm viel, das weiß er. Daher notiert er das, was er verwenden will – wie etwa die von Broca beschriebenen Areale im Hirn, in denen die Sprechfähigkeit lokalisiert ist –, um es nicht zu vergessen, oder besser: um es vergessen zu können. Was ihm im Gedächtnis bleibt, hat zumeist anekdotischen Charakter. Aber was ist für so manchen das Wissen schon anderes als die organisierte Anhäufung von Anekdoten?
    Gelegentlich, wenn ein Unbekannter – ein Taxifahrer, ein Friseur in der Provinz, ein Zugnachbar – ihm indiskrete Fragen nach seinem Leben stellt, erfindet Yves sich im straffreien Raum der Anonymität einen neuen Beruf, fabriziert er sich ein neues Leben. Er fabuliert aus Höflichkeit, fast schon aus Zurückhaltung. Für ihn ist das eine Gelegenheit, seine Fähigkeiten aufzurufen, sie für die Zwecke einer höflichen Unterhaltung zu strukturieren. Er gibt sich sogar die Mühe, bei seinem Gesprächspartner Interesse zu wecken, verleiht seiner Stimme einen leidenschaftlichen Tonfall, der nicht gespielt ist. Für die Dauer einer Taxifahrt von der Placed’Italie bis zur Rue Montmartre ist er eine der europäischen Koryphäen auf dem Gebiet der Kryptobiose der Tardigraden.
    – Auf dem Gebiet der was der was?, sagt der Taxifahrer.
    – Der Kryptobiose der
Tardigradae
. Die Tardigraden sind ganz kleine Tierchen, nicht größer als ein Stecknadelkopf. Sie können das ganze in ihrem Körper vorhandene Wasser absondern, um die extremen Temperaturen in der Antarktis auszuhalten. Das nennt man Kryptobiose. In diesem Zustand können sie Jahre, manchmal Jahrhunderte überleben. Ich erforsche sie seit nunmehr zweiundzwanzig Jahren.
    – Und dafür werden Sie von unseren Steuergroschen bezahlt?, fragt der Taxifahrer beunruhigt.
    – Ah? Ich sehe schon …
    Yves’ Stimme wird kühler, so wie es sich für einen gekränkten Wissenschaftler gehört.
    – Nun ja … wenn Sie eines Tages Krebs bekommen, Monsieur, was ich Ihnen nicht wünsche, aber nur mal angenommen, und ich herausfinde, wie man Sie so lange im Eis konservieren kann, bis man weiß, wie man Sie heilen kann von diesem Scheißkrebs, dann werden Sie es nicht bedauern, all die Jahre mein kleines Gehalt dafür bezahlt zu haben, dass ich die Tardigraden beobachte.
    – Na ja, das ist wohl wahr, sieht der steuerzahlende, aber beruhigte Taxifahrer ein. Also, wie war das noch mal, mit den, wie hießen die doch gleich … Tradigraden?
    – Tardi. Tardigraden. Und die Kryptobiose.
    – »Kryptobiose«, wiederholt der Taxifahrer brav und nickt.
    – Biose. Wie Bio, Biologie.
    Sieg durch Rückzug des Gegners.
    Manchmal erfordert das Spiel einen Sinn fürs Gleichgewicht.Bei einem Friseur in Rennes gibt Yves sich eines Tages als Konservator aus und präzisiert:
    – Im Raumfahrtmuseum.
    – Nein! Im Raumfahrtmuseum? Ist ja nicht möglich!, ruft der Kunde im Nachbarsessel begeistert. Das ist ja fantastisch!
    Pech, der gute Mann ist Hobbyastronom, ist »seit dem zwölften Lebensjahr« Abonnent von
Raum und Kosmos
und hat – so gibt er genüsslich preis – seine ganze Kindheit lang Raumschiffmodelle gebaut, Raumkapseln oder Abschussrampen: »Mein Lieblingsmodelle waren die Sojus U, das war noch solide Wertarbeit.« Das am besten gelungene Modell bewahrt er in seinem Wohnzimmer auf. Der Maßstab ist zwar 1: 24, aber es ist trotzdem zwei Meter zehn lang;

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