Kein Wort mehr ueber Liebe
zweifelte, ob man tatsächlich übers Wasser gehen und Brot vermehren könne, hatte Louise und ihrer Schwester eine durch und durch laizistische Erziehung angedeihen lassen. Aber dieser Großvater, dessen Namen sie trägt, dieser Jude mit Berliner Vorfahren, der der Razzia des Vel d’Hiv entgangen war und der gestorben ist, als sie gerade mal acht Jahre alt war, hat Louise lange Zeit fasziniert. Der Auftritt beim Berryer wird der letzte sichtbare Ausschlag ihrer Identitätskrise gewesen sein.
YVES
Mit drei Jahren konnte der kleine Yves lesen. Das Kind schaute seinem Großvater über die Schulter und fragte ihn, was das Wort »Kennedy« bedeute. Der Artikel sprach von der gerade stattfindenden Revolution in Kuba. Der Großvater eilte sofort zum Telefon und rief seine Tochter an:
– Du wirst es nicht glauben! Yves, dein Sohn! Er kann lesen!
Bei jedem wichtigen Familienessen muss Yves von nun an mit gesenkten Augen und vor Scham geröteten Wangen die Erzählung dieser »Kennedy-Geschichte« ertragen, glorifiziert von der triumphierenden Eitelkeit seiner Mutter.
Schreiben lernen dauerte länger. Er machte wenig Fehler, aber seine Schrift war krakelig, seine Buchstaben unregelmäßig. Seit dem zwölften Lebensjahr hat er stets ein Schreibheft in der Tasche. Darin notiert er einen zufällig gehörten Satz, ein paar Gedichtzeilen, ein neues Wort, das ihn neugierig macht. Diese Lust, alles aufzuschreiben, wird ihn nicht mehr verlassen. Wenig später legt er Hefte an, schreibt Gedichte und Kurzgeschichten hinein. Erst mit zweiunddreißig Jahren, am Tag nach der Geburt seiner Tochter Julie, wirft er die Kartons weg, die die ersten Jahre seines Schreibens enthielten. Nie hat er diese Geste bereut.
Yves Janvier durchquert Paris, ein neues Heft in der Tasche. Das neue Heft ist leicht und fest, der Umschlag aus schwarzem Leder. Dieses Modell reicht gewöhnlich für zwei Monate. Während er die Île de la Cité und den Blumenmarkt überquert, schreibt er einige enge Zeilen hinein, in einer unordentlichen und schrägen Schrift, die er nur schwer entziffern kann, als er das Geschriebene auf den Computer übertragen will.
»Im Wald von Fontainebleau bleibt ein Passant neben einem Maler stehen. Der Maler ist Jean-Baptiste Corot. Ein Datum finden: 1855, 1860? Der Passant betrachtet das Bild, erkennt darauf die Tannenbäume, die Birken, findet aber in der Landschaft nicht den Teich wieder, dessen Wasser in der Mitte des Bildes glitzert. Er fragt Corot, wo sich dieser Teich befindet. Ohne sich umzudrehen antwortet Corot: ›Er ist hinter mir.‹ Parabel. Aber wofür? Dies vielleicht erzählen, ohne irgendeine Verbindung zu stiften.«
Sein Heft enthält sehr viel unverständlichere Notizen.
»Die Monde des Jupiter. Zwölf. Für einige mit bloßem Auge sichtbar.« Oder: »Auf dem Bergkamm stehen. Vom Tal aufsteigen, um auf dem Bergkamm zu stehen. Sich nicht für den Berg als solchen interessieren.«
Einige Seiten weiter vorn hat Yves außerdem notiert:
»Was mag ich so sehr am Regen?«
»Warum habe ich es immer gehasst, fotografiert zu werden?«
»Warum kann man die Verben ›traire‹ und ›extraire‹ nicht im Passé Simple benutzen?«
»Die linke Gehirnhälfte ist verantwortlich für die Sprache (Paul Broca).«
»Das abchasische Domino, das einzige Dominospiel, bei dem man einen bereits gelegten Stein wieder aufnehmen kann, wenn man sonst keinen legen kann.«
Das alles wird vielleicht einmal von Nutzen sein.
Man sollte ein Inventar all dessen aufstellen, was irgendwann einmal Yves’ Interesse geweckt hat: Wie so viele Kinder war er zuerst von den Dinosauriern fasziniert. Seine Eltern besorgten ihm Bilderbücher, Bücher »für sein Alter«, aber schon bald verlangte er nach gelehrteren Werken. Mit neun Jahren stieß er sich an der Modellzeichnung, die in einer Zeitung in anachronistischer Weise einen über einer Herde von Plateosauriern fliegenden Pterodactylus darstellte. Hätte man ihn mitten in der Epoche des Jura ausgesetzt, so hätte er mit Leichtigkeit den sehr friedlichen Barosaurus von dem nicht weniger sanftmütigen Camarasaurus zu unterscheiden gewusst. Seine Familie glaubte an eine dauerhafte Begeisterung, vielleicht gar an eine Berufung, aber nach einem Besuch im botanischen Garten wendete Yves seine Aufmerksamkeit den fleischfressenden Pflanzen zu. Yves bekam sofort ein kleines Gewächshaus, wo er, zwei Monate lang, eine Reihe von Venusfliegenfallen mit Fliegen und Grillen fütterte. Dann kam die Zeit
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