Kein Wort mehr ueber Liebe
Angewohnheit, den Löffel im Mund herumzudrehen, wenn er einen Joghurt isst, »zu lustbetont«. Und wenn Yves für ihren Geschmack einen Augenblick lang zu schnell fährt, seufzt sie:
– Wie soll ich es je wagen, dir meine Kinder anzuvertrauen?
Anna würde ihn so gerne bewundern können, wie sie Stan bewundert, seinen wissenschaftlichen Ernst, seinen Respekt vor den Patienten, seine Arbeiten über die Hornhaut, »die Tausende von Menschen retten werden«, dessen ist sie sich gewiss.
Denn Stan ist unfehlbar, zwangsläufig unfehlbar. Und bei der kleinsten Enttäuschung ist sie am Boden zerstört: Eines Sonntagnachmittags backt Stan mit den Kindern einen Sandkuchen, einen
quatre-quarts
: 4 Eier, 250 g Mehl, 250 g Butter und – ein fataler Fehlgriff – 250 g Salz … Als der Kuchen aus dem Ofen kommt, sieht er recht ungewöhnlich aus. Anna probiert ein Stück, spuckt es unter Grimassen gleich wieder aus und steigert sich in eine so maßlose Wut hinein, dass die Kinder losrennen und in ihrem Zimmer Zuflucht suchen. Das erzählt sie zwei Tage später während ihrer Sitzung bei Le Gall und ist überwältigt von den Tränen, die ihr erneut in die Augen steigen, während sie von dem Vorfall berichtet.
An jenem Tag hat Thomas gespürt, dass Anna am Ende ist. Der Analytiker hat gefürchtet, dass sie Stan verlassenwird, dass sie zur Tat schreiten wird, während sie in diesem Stadium, solange in ihr nur Platz ist für Väter und Liebhaber, doch nichts anderes tun könnte, als von einer Vaterfigur zur anderen Vaterfigur zu wechseln. Yves gehört lediglich zur Kategorie der Liebhaber. Le Gall hat sie, was selten genug geschieht, gewarnt:
– Es kann vorkommen, Anna, dass die Entscheidung für einen anderen Mann gerade dazu dient, sich nicht zu ändern.
Wie an jedem Donnerstagvormittag hat Yves am Ende der Sitzung auf Anna gewartet. Sie hat ihm gleich alles erzählt, und er hat gemerkt, wie sehr Le Gall Recht hat, wie weit sie noch von einem solchen Sprung entfernt ist. Und Yves, der Anna so sehr begehrt, hätte dem Analytiker fast dafür gedankt, dass er sie zurückgehalten hat.
Oft ärgert sich Yves über Annas Ansprüche. Mit ihm, dies ihre große Befürchtung, könnte sie »verarmen«. An dem Tag, an dem sie ihm ihre Angst eingesteht, schaut er sie verdutzt an, versichert ihr, dass diese Angst unberechtigt ist – vor allem hält er sie für ihrer unwürdig –, aber sie insistiert, ernsthaft verängstigt:
– Ich brauche Sicherheit. Ich kann ohne sie nicht leben. Das ist neurotisch bei mir. Ich versuche, daran zu arbeiten. Sei mir bitte nicht böse, ich flehe dich an. Soll ich dir das genaue Wort sagen? Ich fürchte mich, wenn ich mit dir lebe, vor dem Abstieg.
Abstieg: »Niedergang«, »Degradierung«. Die Grausamkeit der Synonymwörterbücher entlockt Yves einen Seufzer.
Nie sind sie einer Meinung. Yves hat den Trotzkisten, der er in seiner Jugend war, nicht ganz vergessen, Anna hasst, wie sie sagt, die Globalisierungsgegner. Als Yves bei einemAbendessen deren Verteidigung übernimmt, ist sie gleich gereizt:
– Der Zweck einer Gesellschaft kann nicht die Gleichheit sein. Schau dir an, was passiert, sobald man nach Gleichheit strebt. Die Menschen sind nicht gleich.
Yves antwortet ihr auf ihrem Terrain: Die Gleichheit ist keineswegs ein Zweck, sondern das Mittel, damit die Besten hervortreten und ihre Bedingungen hinter sich lassen können. Warum gilt ihre Bewunderung, wenn doch »das Geld ein Antrieb ist«, ausschließlich Künstlern, Wissenschaftlern und Schriftstellern? Sie versteift sich, sie streiten sich. Die Gäste am Tisch glätten die Wogen. Als er sich einen Augenblick lang mit einem Freund allein in der Küche befindet, lächelt Yves:
– Du wirst dich fragen, was ich mit dieser Frau mache oder was sie mit mir macht.
– Nein, sagt der Freund ganz nüchtern, obwohl er in der Tat fragend dreinschaut. Ihr seid ganz einfach sehr verschieden. Ein Pluspol und ein Minuspol.
Anna sagt auch:
– Ich kann nicht rundum zufrieden sein. Und dafür wirst du mich hassen. Für einen Mann ist es sehr frustrierend, wenn er eine Frau nicht zufriedenstellen kann.
Yves findet auch da kein Gegenargument. Er muss sich schon sehr anstrengen, um sich selbst von dem Gedanken zu überzeugen, dass Anna trotz allem bei einem Wechsel gewinnen könnte.
Eines Tages, da er endgültig zu viel hatte, hat er in seinem Bücherschrank nach Drieu La Rochelles Buch
Une femme à sa fenêtre
gesucht, um Anna diesen so reaktionären und
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