Kein Wort mehr ueber Liebe
gegenüber Platz genommen, reicht er ihr ein kleines, in rotes Krepppapier eingeschlagenes Päckchen.Sie öffnet es; es enthält fünf vollkommen identische Bücher. Kleines Format, elfenbeinfarbener Einband, gut sechzig Seiten.
Sie hebt den Blick, wirkt fast schon erschrocken.
– Keine Bange, sagt Yves. Das Buch existiert nur in zehn Exemplaren. Die Hälfte der Auflage liegt vor dir.
– Danke, sagt Anna. Kann ich es jetzt gleich lesen?
– Das hoffe ich sehr, antwortet Yves. Es ist nicht sehr lang.
Yves Janvier
Vierzig Erinnerungen an Anna Stein
éditions du regard
Wo stecken unsere Erinnerungen? Broca hat nachgewiesen, dass die linke Gehirnhälfte für die Sprache zuständig ist, Penfield zufolge beherbergen die Schläfenlappen das Gedächtnis. Ein Zusammenspiel von Neuronen, die Chemie des Gehirns speichert also diese Bilder, diese Düfte und diese Klänge, die ich die Erinnerung an Dich nenne. Warum bewahren meine Hände von allein die Erinnerung an Deine Haut?
Es sollen vierzig Erinnerungen an Dich sein. Den Grund dafür hast Du schon erraten. Vierzig, das ist nicht wenig, denk nur an Ali Baba. Und vierzig, das ist längst nicht genug: Ich muss darauf verzichten, eine Deiner so besonderen, ganz eigenen Gesten nachzuzeichnen, eine Straßenflucht zu beschreiben, vor der sich Deine Umrisse abheben, ich werde keines Deiner Worte heraufbeschwören können, das mich berührt hat, manchen Deiner Züge beiseitelassen, mit der dürftigen Entschuldigung, sie anderswo schon zu lesen gegeben zu haben.
Etwas genau zu beschreiben ist unnütz, und ich bin mir des Risikos, das ich eingehe, bewusst, des Risikos der Plattitüde. Ich gehe es dennoch ein, denn die Erinnerung selbst läuft eine noch viel größere Gefahr, die Gefahr, in Vergessenheit zu geraten, denn das Vergessen ist die natürliche Bestimmung des Gedächtnisses. Vor allem aber weiß ich, dass jede Erinnerung, die hier in Worte gebannt ist, nur dazu da ist, das Unmögliche zu vollbringen: Dich nie wieder zu verlieren.
EINS
Es ist eine zu vage Erinnerung, ein Dunstschwaden im Gedächtnis. Du stehst in der Mitte einer großen Diele in einer Wohnung auf dem linken Seine-Ufer und redest. Ich schreibe »Du«, aber das ist absurd, denn ich weiß noch nicht, dass Du Du bist. Die Menschen, die in unserem Leben Platz nehmen, sind, am Vorabend der ersten Begegnung, noch Unbekannte, und das zu schreiben, ist weniger Ausdruck von Naivität als von staunender Verwunderung.
Du redest über Inzest und Vergewaltigung. Aus Deinen Augen spricht eine seltene Lebhaftigkeit, Deine singende Stimme ist durchdringend, Deine Aussprache selbstsicher, präzise, ich erahne hinter diesem raschen Redefluss eine Dringlichkeit, die nichts mit dem Thema, wohl aber mit Deiner Art zu sein zu tun hat. Die Kleider, die Du trägst, scheinen zu weit. Deine Haare streichen über Deine Schultern. Wenn ich Dich so wenig anschaue, dann, weil ich allzu begierig bin, Dich anzuschauen. Ich will nicht, dass meine Begierde das aufkeimende Verlangen verrät, ich will nicht, dass meine allzu sichtbare Aufmerksamkeit Dich in Verlegenheit bringt. Noch heute trauere ich diesen ersten Minuten nach, in denen ich es nicht gewagt habe, Dich besser zu erfassen, Dich besser anzuschauen.
ZWEI
Du erinnerst Dich daran vielleicht besser als ich. Wir sitzen am Abend, in Gesellschaft von Leuten, die mir nichts sagen, in jenem italienischen Restaurant in der Rue Mazarine und essen
Tagliatelle al pesto ligure
. Wir kennen uns noch nicht, Du ziehst mich an, verwirrst mich. Wenn Du Dich uns zu diesem Abendessen nicht angeschlossen hättest, wäre ich nach Hause gegangen.
Wir reden über die Shoah, über die Lager, über Belzec, und es ist einfach stärker als ich, ich kann das Wasser, das sich in meinen Augen bildet, nicht verbergen. Später wirst Du mir verraten, dass Du darüber gerührt warst. Plötzlich sprichst Du diese Wörter aus: »mein Mann, meine Kinder«, und ich denke: natürlich. Eine solche Frau kann nicht ohne Bindungen sein. Die Verwirrung, in die ich stürze, als Du mir zu verstehen gibst, dass nichts geht, lässt mich nackt dastehen, sie spricht mir von der Einsamkeit, in der ich – ohne Dich – immer gelebt habe. Die Evidenz bricht sich Bahn: Ich zweifele nicht mehr daran, dass Du eine Frau für mich bist.
Du wirst das Wort aussprechen: »Wie vom Blitz getroffen.« Später aber, für ein Porträt, das dann in der
Quinzaine Littéraire
erschienen ist, schreibe ich, auf Bitten der Journalistin,
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