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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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Baustelle ums Leben gekommen ist. Das Einzige, was sie zu sagen vermocht hatte, war: Dein Papa ist nicht mehr da, er ist fortgegangen. Diese Abwesenheit erlebt das Kind wie eine unsagbare Schande, es tut so, als ob es, vergeblich,auf die Rückkehr des Vaters wartete, aber es hat wahrscheinlich schon begriffen. Die hilflose, überforderte Mutter hat sich darauf versteift, bei der Lüge zu bleiben. Sie hatte geglaubt, ihren Sohn zu beschützen, ihn auf Distanz zu diesem Schmerz zu halten, aber sie hat ihn von sich selbst entfernt: Morad ist allein in seinem Elend.

    Anna begleitet Mutter und Sohn bei den ersten Schritten zu dieser Offenbarung. Die Worte sind plötzlich gesagt, und Morad schaut seine Mutter verwundert an. Und als Anna zu Morad gesagt hat: »Jetzt kannst du, wenn du Kummer hast, mit deiner Mama darüber reden«, hat das Kind seine Frage gestellt.
    – Was ist das, Kummer?
    – Das ist, wenn man traurig ist. Du weißt, was das heißt, traurig?
    Das Kind hat genickt. Anna hat Morad angeschaut, ihn angelächelt und gesagt:
    – Kannst du dich an deinen Vater erinnern, Morad?
    Das Kind antwortet nicht. Die Mutter hat Tränen in den Augen. Anna dreht sich zu ihr um:
    – Und Sie, Madame, was können Sie Morad über seinen Vater sagen? Was hat er zum Beispiel gern mit Morad zusammen gemacht?
    Die Mutter denkt lange nach, dann murmelt sie:
    – Mein Mann hat gerne gesungen. Er sang ein Lied, ein Lied aus unserem Dorf.
    – Und Sie, singen Sie Morad dieses Lied noch vor?
    – Aber nein. Ich singe das Lied nicht. Ich kann nicht singen.
    – Und du, Morad, kannst du singen?
    Das Kind schaut seine Mutter wortlos an und zeichnet einen Bären. Anna hakt nach.
    – Wären Sie bereit, uns dieses Lied vorzusingen, Madame? Vielleicht nur die Melodie?
    Die Frau willigt ein, schweigend zerknüllt sie ihr Taschentuch zwischen den Händen. Ihre Fingergelenke erblassen unter dem Druck. Sie singt leise, aber angestrengt.
    –
Aandi d’beyyib ya mahleh ya mahleh gannouchou khachmou wateh.
    – Wovon spricht das Lied, Madame?
    – Das Lied sagt: »Ich habe einen kleinen, ganz weichen und schönen Teddybären, und seine Nase steht ihm gut …«
    – Nun, Morad, erinnerst du dich ein wenig? Vielleicht kannst du ja, wenn du traurig bist, mit deiner Mutter das Lied singen, das dein Vater dir vorgesungen hat, als du noch ein ganz kleines Baby warst.
    Das Kind lächelt Anna an und nickt. Ja, Morad kennt das Lied,
»Aandi d’beyyib ya mahleh«
. Er wird es mit seiner Mama singen. Für seinen Papa, der gestorben ist. Er hat alles genau verstanden.
»Aandi d’beyyib ya mahleh«.
Er hat das Recht, Kummer zu haben. Er wird wieder auf seine Mutter zugehen können, mit ihr über den Vater sprechen können. Die Mutter wird wieder ihren Platz einnehmen können. Jetzt ist sie so weit.
    Yves hört Anna zu. Ein zärtliches Mitgefühl übermannt ihn, und er geht einen Tee aufsetzen, bevor Anna das Wasser in seinen Augen bemerkt und sich über ihn lustig macht.

YVES UND STAN
    Es halten sich nur noch wenige Menschen in der Buchhandlung »L’À peu près« auf, und Yves will sich gerade von dem Tisch erheben, an dem er Bücher signiert hat, um sich zu dem Buchhändler an der Kasse zu gesellen. Ein Mann, den Yves nicht bemerkt hatte, kommt auf ihn zu, er hatte den letzten Moment abgewartet, um sich zu nähern: Er hält ihm
Das zweiblättrige Kleeblatt
entgegen.
    – Ich widme es … wem?, fragt Yves.
    – Für Stanislas und Anna, bitte. Anna ist meine Frau. Der Ton ist wenig freundschaftlich. Yves schaut auf, mustert rasch den Mann. Er ist groß, Anfang vierzig, trägt eine Hornbrille. Seine braune Samtweste ähnelt der, die Anna ihm vor drei Tagen aufschwatzen wollte. Natürlich ist dieser Stanislas Annas Mann, und er weiß alles, dieser Augenblick musste kommen. Vielleicht hat er sie zusammen gesehen, vielleicht hat ihn ein Freund gewarnt.
    Yves versucht, Zeit zu gewinnen.
    – Anna, das schreibt sich doch a, zwei n, a. Oder sagten Sie »Hanna«?
    – Kein h.
    »Für Anna, für Stan …«, schreibt Yves.
    – Entschuldigen Sie, Monsieur, aber kennen wir uns nicht?
    – Nein, antwortet Stan. Ich bin sicher, dass wir uns noch nie gesprochen haben.
    Die Stimme ist kalt, feindlich. Nervös öffnet und schließt Stan seine Faust. Eines Tages hatte Anna Yves gesagt, dass Stan, wenn er von ihm und ihr erführe, ihm wohl »die Fresse polieren« könnte. Er hatte Anna gewarnt: Falls ihr Mann ihn beleidigte, würde er das hinnehmen, aber beim ersten

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