Kein zurueck mehr
über den Rand.
Ich mache noch einen Versuch. »Gut, was ist mit dem Mal, als er –«
»Jace.«
»Was?«
Er steht auf und diesmal sieht er dem Kiesel nach, als er ihn fallen lässt.
»Es ist eigentlich nicht schwer, mit ihr zu reden«, sage ich. »Sie ist nicht so voreingenommen, wie ich dachte.«
Er schnaubt. Ich sammele meine eigene Portion Schotter, schöpfe die kleinen Brocken aus einer Kuhle im Felsboden. Ich stelle mich neben Christian und sehe den Ballons nach.
»Wie viele das wohl sind?«
»Hunderte.«
Ich hole tief Luft und mache einen Vorstoß, um die Grundregeln auf die Probe zu stellen.
»Warum erzählst du ihr nicht, was passiert ist, als er dich in New York gefunden hat?«
Er wirft mir einen Blick zu. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass Feingefühl nicht gerade deine Stärke ist?« Er zieht sein Hemd aus dem Hosenbund und hebt es hoch. Über seinem Rücken verläuft ein schmaler Grat aus heller Haut. »Ich hab ihr erzählt, ich bin überfallen worden.«
»Aber diese Narbe ist ja … perfekt«, sage ich und mustere die feine Linie.
»Chirurgie. Ich war abgehauen und du weißt ja, wie er ist. Was dachtest du denn, wie er darauf reagiert? Er hat damit gedroht, mich umzubringen, und er hat sich alle Mühe gegeben, das auch zu tun. Ich weiß nicht mehr, welcher Schlag mir die Rippen gebrochen hat. Eine Rippe hat einen Lungenflügel durchbohrt, deshalb mussten die Notfallärzte operieren.«
Ich bin ganz still und beobachte, wie die Sonne an der Bergwand emporkriecht und das Blau des Morgens vor sich herschiebt.
»Er wartete auf mich, als ich ins Zimmer kam. Mein Mitbewohner hatte ihn ins Wohnheim gelassen. Er saß einfach auf diesem schäbigen alten Sofa, dieser ausziehbaren Couch, auf der du jetzt schläfst, weißt du? Eine seiner Rechtsgehilfinnen hatte einen Cousin, der beim New-York-Marathon mitgemacht hatte, und deshalb hatte sie die Ergebnisse nachgeguckt. Ihr Cousin und ich waren gleich nacheinander über die Ziellinie gelaufen.«
Jetzt beginne ich, eins und eins zusammenzuzählen: Er will nicht in Boston mitlaufen, weil mein Dad ihn finden könnte. Wir wussten alle, dass Christian diesen Marathon laufen wollte. Jetzt erinnere ich mich auch, dass mein Dad ihn sich jedes Jahr im Fernsehen anguckt. Ich hatte das immer als eine Hommage an Christian verstanden, nicht als eine Strategie, ihn zu finden.
»Er wusste, dass ich an der New York University angenommen worden war, aber der Brief mit dem Stipendium kam, als ich schon nicht mehr zu Hause wohnte, also hat er nie damit gerechnet, dass ich es mir leisten könnte. Mein Wohnheim fand er über die Schulverwaltung. Du weißt ja, ich war erst siebzehn, als ich aufs College ging, noch nicht volljährig. Wie auch immer, er hat verlangt, dass ich wieder nach Hause komme und ob ich nicht wüsste, dass ich Mom das Herz brechen würde und wie viele Sorgen sie sich mache und all solcher Blödsinn. Dich hat er gar nicht erwähnt und ich … hab nicht gefragt. Das tut mir wirklich leid, Jace. Ehrlich.«
Ich starre hinunter auf den Fels und möchte plötzlich ein Teil davon werden – ganz einfach mit dem Boden verschmelzen. Wahrscheinlich sollte ich ihm sagen, dass es schon okay ist, dass ich kapiere, warum er mich nicht mit aufs College nehmen konnte.
»Ich hatte die Familie Costacos gebeten, ein Auge auf dich zu behalten, aber als ihr umzogt und er dich nicht geschlagen hatte … Und ich hab ihnen nicht von Mom erzählt, also haben sie nur versucht sicherzustellen, dass er nicht auf dich losging … Ich vermute, sie hatten nicht besonders viel Übung mit der Einschätzung solcher –«
»Ich bin ja klargekommen.«
»Wirklich?« Er wirft die ganze Handvoll Steine den Abhang hinunter und ich beobachte, wie sich sein Brustkorb schnell hebt und senkt. Er presst die Ellenbogen an seine Seiten.
»Was glaubst du denn, was passiert ist, nachdem du weg warst?«, frage ich.
»Ich weiß genau, was passiert ist, Kröte. Verflucht, ich hab dir ja selbst beigebracht, wie man es macht, nicht wahr?«
»Wie man was macht?«
»Wie man ihn so reizt, dass er es an uns auslässt und nicht an ihr.«
Ich frage mich, ob er gerade an denselben Abend denkt wie ich, den ersten Abend, an dem mein Dad ihn geschlagen hat.
»Jeder Junge will doch so sein wie sein großer Bruder, stimmt’s?«, sagt er. »Wie oft hat Mom mir das eingeschärft? Und trotzdem hab ich es dir vorgemacht. Wie konnte ich denken, dass du nicht meinen Platz einnehmen würdest?«
»Was
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